Washington übt einen komplizierten Balanceakt

■ US-Regierung wird durch Wahl innen- politische Schwierigkeiten bekommen

Immer das Positive sehen – so lautet die Devise der Clinton-Regierung nach den Wahlen in Rußland. „Höchst erfreut“ zeigte sich der US-Präsident angesichts des Umstands, daß der Verfassungsentwurf Boris Jelzins am Sonntag von der Mehrheit der WählerInnen angenommen wurde – eine Verfassung, die seinem russischen Amtskollegen Kompetenzen einräumt, die, so witzelt man in Washington, Bill Clinton auch gern hätte. Die negative Nachricht kommentierte Clinton gelassen. Es sei kaum möglich, solche Umwandlungsprozesse durchzuführen, ohne Protestkandidaten wie Wladimir Schirinowski zu Popularität zu verhelfen. Man möge doch bitte nicht vergessen, erklärte der Präsident, daß sich der politische und ökonomische Wandel in der Ex-Sowjetunion in einer Zeit globaler Rezession vollziehe, in der sich selbst in den reichsten Ländern Frustration und Angst innerhalb des Mittelstands breitmache.

Doch Clintons Beschwichtigungen täuschen nicht darüber hinweg, daß man in der Regierung vom Abschneiden der Ultranationalisten, Kommunisten und anderer Anti-Reformparteien überrascht wurde. Analogien zur Weimarer Situation machten am Dienstag abend in Fernsehdiskussionen die Runde. Im US-Außenministerium formulierte man es diplomatischer: „Diese Wahl“, so erklärte ein frustrierter Beamter des State Department der Washington Post, „hat deutlich gemacht, wie viele Extremisten es gibt und wie wichtig es ist, die Mitte zu stabilisieren. Wir unterstützen weiter Jelzin und die Reformer, aber sie müssen sich mehr anstrengen, diese Mitte zu bilden.“

Das Ergebnis der russischen Parlamentswahlen bereitet der Clinton-Regierung in mehrfacher Hinsicht Kopfzerbrechen: Nach dem politischen Machtgewinn Schirinowskis und seiner Expansionsrhetorik wird es noch schwieriger sein, die Ukraine zu bewegen, ihr Nuklearwaffenpotential aufzugeben – eines der prioritären Ziele der US-Außenpolitik. Auch dürfte der Nato-Gipfel am 10. Januar nun unter etwas anderen Vorzeichen stehen. Die Regierungen der Mitgliedsländer werden überlegen müssen, wie jene ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten wie die ČR oder Ungarn zu beruhigen sind, die aus Angst vor russischen Großmachtträumen lieber heute als morgen dem transatlantischen Bündnis beitreten würden – ein Anliegen, das die USA unter anderem aus Rücksicht auf Boris Jelzin ablehnen.

Beide Probleme könnten exemplarisch sein für die zukünftige Politik Washington gegenüber Moskau: ein höchst komplizierter Balanceakt, um einerseits die innenpolitische Position Jelzins nicht zu unterminieren und andererseits die umliegenden Staaten zu beruhigen. Erste Gehversuche nach den Wahlen wird US-Vizepräsident Al Gore unternehmen, der in der Regierung in Zukunft einen gewichtigen außenpolitischen Part spielen wird. Gore, der am Montag in Kasachstan der Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages beiwohnte, wird sich als nächstes in Moskau mit Boris Jelzin treffen.

Auch innenpolitisch wird die US-Regierung nach dem russischen Wahlergebnis mit größeren Schwierigkeiten im Kongreß zu rechnen haben. Die Bewilligung von Wirtschaftshilfe war und ist angesichts des eigenen Defizits immer mit harten parlamentarischen Debatten verbunden. Der Aufstieg des Wladimir Schirinowski könnte nun dazu führen, daß das Thema Rußland wieder mehr unter militärischen als unter ökonomischen und diplomatischen Gesichtspunkten diskutiert wird – nicht nur, weil der Ultranationalist Anspruch auf Alaska erhebt. Andrea Böhm, Washington