„Ich würde auch noch mehr aufnehmen“

■ Emina Kamber hat acht Geschwister im Krieg und zwölf Flüchtlinge bei sich zu Hause   Von Kaija Kutter

Es schneit in Billstedt. Geißleinweg 4, eine ungewöhnliche Adresse in der „Märchensiedlung“. So heißt das Gebiet zwischen Manshartstraße und Schiffbeker Weg, in der 436 Kleingärtner ihre Nachkriegsbehelfsheime zu Einfamilienhäusern hochgetrimmt haben. Das weißgetünchte Restaurant „Bosnafolklor“ fällt aus dem Rahmen, die Wirtin, Emina Cabaravdic-Kamber, auch. Bei Kaffee und Stollen sitzen wir vormittags im kaum beheizten Gastraum, in dem einmal im Monat auch Lesungen und Vernissagen stattfinden.

Die Waschmaschine läuft im Hinterzimmer. 24 Stunden am Tag sei das Gerät in Betrieb, sagt die Dichterin und Gründerin des internationalen Literaturclubs „La Bohemina“. Seit sie im April vorigen Jahres 17 Flüchtlinge aus Bosnien in ihrem Haus aufgenommen hat, sei allein die Wasserrechnung auf 800 Mark pro Monat gestiegen. Für Strom und Heizung gab's eine satte Nachforderung von 5000 Mark. Keinen Pfennig habe sie von der Stadt bekommen. Aber, sagt sie, „wenn ich könnte, würde ich noch mehr Flüchtlinge aufnehmen“.

Emina denkt dabei an ihre Schwester, die in der von Kroaten umzingelten Stadt Kakanj festsitzt. Über einen Konvoi der Grünen war es im vorletzten Oktober gelungen, eine Bürgschaft für die Einreise zu schicken. Die Dokumente wurden überbracht, von der Schwester hat sie seither nichts gehört. Eine andere Schwester ist als Ärztin an der Front. Zwei Brüder auch. Acht Geschwister im Krieg. Ein Schwager sei in einem Konzentrationslager, seit anderthalb Jahren keine Nachricht von dem Mann. „Die schlimmste Kriegsstrategie ist, daß der Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten wird. Die Menschen dort brauchen seelische Nahrung. Unser Wort, unsere Gefühle.“

Der Postbote kommt, es ist aber nur die Zeitung. Keine Neuigkeiten von der 71jährigen Mutter ihres Mannes, die allein in Sarajewo festsitzt. Vor anderthalb Monaten kam ein Brief. Ein 18jähriger Neffe war von einer Granate getroffen worden. Die Familie saß im Luftschutzbunker, er war zum Brotholen rausgegangen.

Emina Kamber hält nichts von einem militärischen Eingreifen der UNO. Die Waffenlieferungen müßten gestoppt werden, sagt sie. Und die Bundesrepublik solle an der Einheit des multikulturellen Bosnien feshalten. 70 Prozent der in Bosnien geschlossenen Ehen seien gemischt religiös. „Es ist gar nicht möglich, die Stadt von Muslimen zu säubern.“ Sie selbst hatte einen islamischen Gelehrten zum Vater und trotzdem eine liberale Erziehung: „Ich durfte mit zwölf Bikini und Minirock tragen, wie andere Mädchen auch“.

Den Haß der Nationalitäten will die Künstlerin, die seit 25 Jahren in Deutschland lebt, nicht auf hiesige Freundschaften übertragen sehen. Im Billstedter Einkaufszentrum sitzen Jugoslawen immer noch friedlich beim Kaffee zusammen. In Eminas Restaurant, das sie seit 13 Jahren mit ihrem Mann betreibt, stehen auch heute noch Serbische Bohnensuppe, Bosnischer Eintopf und Kroatischer Strudel auf der Speisekarte.

Fünf Jugendliche haben inzwischen eine eigene Wohnung, die übrigen Flüchtlinge, drei Mütter und neun Kinder, leben im oberen Stockwerk. Wenn Betrieb im Restaurant ist, kommen sie nicht herunter. „Sie schämen sich, weil sie kein Deutsch sprechen“, sagt Emina. Ihr selbst falle es sehr schwer, ein freundliches Gesicht für die Gäste zu machen und die Traurigkeit mit einem professionellen Lächeln zu verdrängen.

Der Schnee wird dichter. Ismet, ein blasser 14jähriger Junge, kommt herein. Er war schon morgens um 4 Uhr bei der Ausländerbehörde, Duldung beantragen. Seine Mutter wartet immer noch. Freunde, die nachts um 12 anstanden, hätten für sie eine Nummer mitgezogen. Aber die Schlange war so lang. Kommen sie an die Reihe, fällt die Duldung je nach Sachbearbeiter anders aus. Mal ein, mal drei, mal sechs Monate. Alle drei Familien, die bei den Kambers wohnen, haben bosnische Pässe beantragt. Wenn Frieden ist, möchten sie so schnell es geht zurück.

Kein Nachbar aus der „Märchensiedlung“ hat sich erkundigt, wer denn die Menschen sind, die bei den Kambers wohnen. Diese Siedlung, in der schon nachmittags die Rolläden heruntergehen, trägt den falschen Namen, sagt Emina.

Im Hinterzimmer, wo Emina einst ihr Atelier hatte, stapeln sich Pakete für die Aktion „Brücke nach Bosnien“. Säckeweise liegen Kinderkleidung, Kakaopulver und Sachspenden aller Art für den Transport nach Kassel bereit. Auch die Mütter haben von ihrem Putzgeld Pakete gepackt, die allerdings nie ankamen, auch Bankanweisungen kamen zurück.

Emina hat Tränen in den Augen. „Wenn es schneit, muß ich an meine Familie denken“. In Bosnien ist es mindestens so kalt wie in Billstedt.