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■ FluchtwegeSie ist dennoch fortgegangen

Seit Tagen das unerträgliche Heulen von Artilleriegranaten. Schnellfeuer der Infanterie. Angst, Hunger, Kälte und ein Leben im Rattenloch. Die Welt ist auf unserer Seite, spricht die undeutliche Stimme, die aus dem Kofferradio dringt. Die Gerechtigkeit hat lahme Beine, zitiert jemand. Er soll still sein. Der Bericht aus Genf ist sehr wichtig. Dort wird das Schicksal Bosniens entschieden. Wichtig ist auch der Bericht aus dem Kampfgebiet. Und der über die humanitäre Hilfe. Alles ist wichtig, sagen andere, aber wir können nicht die ganze Nachrichtensendung hören. Die Batterien sind am Ende... Wir versuchen, zur Gitarre zu singen. Doch das gestern verfaßte Lied haben wir bereits vergessen. Auch die Freude über ihre Befreiung aus dem Lager der Tschetniks haben wir vergessen. Was ist das für eine Freiheit, fragte sie uns schon nach einem Tag. Ohne Strom, Wasser, Essen, Heizung. Immer im Keller. Was soll die Frage, antworten wir. Ist es nicht wichtig, daß du nicht mehr in Gefangenschaft bist? Ja, sagt sie und will wissen, wie sie aus diesem Stadtteil hinauskommt. Je eher und je weiter fort, um so besser ... Natürlich ist sie vergewaltigt worden, antwortet jemand auf die Frage, die sie unbeantwortet läßt. Wozu hätten sie sie gefangengehalten? ... Wühlt doch nicht in den Wunden, fügt ein Dritter hinzu. Hauptsache, es ist vorbei, meint ein Vierter ... Sie verläßt den Keller. Wir hinterher. Wir erklären, daß die Menschen wegen der Einkesselung oft Unsinn reden. Daß Gerichte aus gekochtem Gras mit ein wenig Mehl und Salz gar nicht mal so schlecht schmecken. Man muß sich nur daran gewöhnen. Sie schweigt. Wir erzählen von Fronterlebnissen. Wie wir monatelang versucht haben, sie herauszubekommen. Sie weint. Sie sagt, drei Monate lang habe ich keine einzige Träne vergossen in der Hoffnung, daß mich hier wenigstens ein kleiner Teil meines ehemaligen Lebens erwartet. Sind wir kein Teil deines Lebens? fragen wir. Unsere Lieder? Unsere Späße? ... Lieder? wiederholte sie. Ich sehe und höre hier nichts außer Tod und Leid, Hunger und Elend. Leere Geschichten von Freiheit, die auf einem weißen Pferd daherkommen wird. Ich brauche keine blendende Zukunft, sondern eine annehmbare Gegenwart ... Wir schweigen einen Augenblick, dann sagte jemand: Es ist Krieg! Sie haben uns angegriffen, und wir verteidigen uns vor denen, die dich gefangengenommen, gefoltert, vergewaltigt haben ... Da hat sie sich umgedreht und ist in den Keller zurückgegangen. An den folgenden Tagen sprach sie mit kaum jemandem. Sobald die Schießerei aufhörte, ging sie fort und kam gewöhnlich in der Dämmerung zurück. Zweimal brachte sie etwas Nahrung und Kleidung. Einmal sogar Zigaretten, und sie beschwerte sich auch nicht, als sie an der Reihe war, Feuerholz zu besorgen ... Eines Morgens ging sie zeitig fort und kehrte nicht mehr zurück. Drei Tage brauchten wir, um dieses Weggehen mit der Abfahrt eines Hilfskonvois des Roten Kreuzes aus der Stadt in Verbindung zu bringen ... Zwei Monate später trafen mit einem Journalistenteam eine Stange Zigaretten und ein Brief ein. Ihre Unterschrift und ihr Leid zusammengedrängt in fünf Zeilen. Ohne Adresse, ohne ein Wort, wie es ihr gehe. Nur der Wunsch, nie mehr diese Stadt zu sehen, und die Hoffnung, daß wir gesund und heil den Krieg überleben. Und die Bitte, nicht allzu streng über sie zu urteilen. Zlatan Čabaravdić

Mit freundlicher Genehmigung entnommen dem Buch „Narben aus Sarajevo“, Edition Bosnische Wort, Bambi-Verlag, Wuppertal.

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