Die Brücke von Mostar

Mit den Denkmälern werden Schichten des kulturellen und moralischen Bewußtseins zerstört  ■ Von Stanko Cerović

Unzählige westliche Zeitungen haben jüngst zwei Fotos nebeneinander publiziert: das berühmte Foto von Mostar mit seiner Alten Brücke, und ein aktuelles Foto mit demselben Hintergrund, bloß ohne Brücke. Die Empörung ist groß. Doch nur die Bürger Ex-Jugoslawiens können den Schaden ermessen. Nur sie können die Weite der Lücke nachfühlen, die an der Stelle entstanden ist, wo die Brücke die Neretva überspannte.

Der Zement, der ihre Steine zusammenhielt, habe aus Gänseeiern und Gänsefedern bestanden, heißt es. Wie dem auch sei, die Geschicktheit und die Intuition des Architekten hatten eine wunderbares Bauwerk hervorgebracht. Das Foto mit der Brücke zeigte zweifellos das bekannteste Bild Ex-Jugoslawiens. Die Brücke war bei weitem das berühmteste Kunstwerk der Region. Man könnte sogar sagen, daß ein Mysterium die bosnischen Brücken umgibt. Die Türken selbst waren ungewöhnlich inspiriert, als sie sie in Bosnien bauten. Später wurden diese Brücken, obwohl das nicht in der Intention ihrer Erbauer lag, symbolische Bande zwischen verschiedenen Religionen oder sogar zwischen Zivilisationen, zwischen Okzident und Orient.

Von der Brücke über die Neretva sind nur zwei Stümpfe übriggeblieben. Nicht zum erstenmal wird eines der historischen und kulturellen Symbole, von denen es in Bosnien wimmelt, zerbrochen, aber diese Zerstörung ist schlimmer als alle vorhergehenden. Man vernichtet alles, was der menschliche Geist in diesen Gegenden erschaffen hat, und so lösen sich die Normen und die Werte auf, die sich seit Generationen herausgebildet haben und weitergegeben wurden. Übrig bleibt nun die entfesselte Wildheit, die blind wütet. Die Energie muß verausgabt werden, und wenn sie nicht dazu dient, aufzubauen, dann eben dazu: zu zerstören.

Die kroatische Armee, die die Brücke zerstörte, behauptet, die Muslime hätten die Brücke gebraucht, um darüber Nahrungsmittel zu transportieren, und so hätten die 50.000 Einwohner am linken Ufer überlebt. Ja, und wenn! Sie hätten genausogut sagen können, die Einwohner hätten die Brücke angeschaut, und so müsse man den Feind nun blenden, oder man müsse seine Luft vergiften, denn er atme sie ein ... Wo kommen wir mit dieser Logik hin?

Mostar ist stärker verwüstet worden als jede andere Stadt Bosnien-Herzegowinas. Die Kämpfe dort waren blutiger als anderswo und der Krieg hatte eine unwirkliche Dimension angenommen. Die Muslime und die Kroaten, die sich dort bekriegen, haben sich ursprünglich – zumindest dem Schein nach – gegenseitig verteidigt. Sie lebten zusammen, vermischt, auf sehr engem Raum.

Die ethnische „Säuberung“ ist dort noch komplizierter durchzusetzen als anderswo, denn es gab in der Stadt fast gleich viele Kroaten wie Muslime. Letztere waren nur eine knappe Mehrheit. Es gab schon keine Stadt mehr. Die Gewohnheiten und die Mentalität, die in den alten Steinen ihre Wurzeln geschlagen haben, waren bereits vernichtet worden.

Trotzdem hatte man den Eindruck, daß die Stadt solange lebte, wie die Alte Brücke noch stand. Im übrigen hat die Brücke der Stadt ihren Namen gegeben und nicht umgekehrt (Brücke“ heißt auf serbokroatisch „most“). Heute, wo die Brücke nicht mehr steht, hat das Wort Mostar keinen Sinn mehr.

Gewiß, die Brücke wird eines Tages wieder stehen. Die Unesco baut diese Art von Gebäuden wieder auf, technisch gesehen ist das keine große Herausforderung. Aber das kann die bittere Wahrheit nicht auslöschen: All diese Jahrhunderte haben der Brücke nicht gereicht, um die Menschen weniger barbarisch zu machen. Die Kroaten haben sie zerstört, oder besser gesagt: ihr den „Gnadenschuß“ gegeben, nachdem sie von den Serben übel zugerichtet worden war. Die Kroaten der Herzegowina sind nicht bessere oder schlechtere Menschen als die Serben oder Muslime, aber unter den gegebenen Umständen ist es ihr Image, das beschädigt wurde. Sie werden mit dieser Schmach leben müssen.

Die Kroaten haben sie also zerstört, und Ausländer werden sie eines Tages wieder aufbauen – als ob man beweisen wollte, daß diese Völker ihre Denkmäler nicht verdienen. Im übrigen ließ Sulaiman der Prächtige sie errichten, als das Osmanische Reich seinen Höhepunkt erlebte.

Die systematische Zerstörung der Denkmäler Bosnien-Herzegowinas im Namen nationaler Ideologien, die die Symbole der andern auslöschen wollen, verweist vielleicht besser auf die wahre Natur dieses Krieges als die Massaker an Unschuldigen, die gezielte Ermordung von Kindern und die Massenvergewaltigungen. Man kennt die Zahl der zerstörten Moscheen nicht. Es wurde ganz offensichtlich entschieden, auch nicht eine einzige stehen zu lassen. Einige von ihnen sind architektonische Juwele, wie es die Alte Brücke war.

Gewiß, man zerstört auch Kirchen, unter ihnen vermutlich auch sehr schöne, aber dieses christliche Kulturerbe ist nicht so typisch zutiefst bosnisch. Das heißt nicht, daß die Muslime mehr Recht auf Bosnien hätten als die Serben oder die Kroaten oder bosnischer als sie wären. Niemand vermag zu sagen, ob die Serben, die Muslime oder die Kroaten von der türkischen Herrschaft am stärksten geprägt wurden. Diese ist Teil ihrer gemeinsamen Vergangenheit: wie soll man wissen, ob eine Kirche, eine Kathedrale oder eine Moschee mehr jenen beeinflußt, der in sie eintritt oder mehr jenen, der sein ganzes Leben in ihrem Schatten verbringt?

Man kann auch nicht wissen, welches dieser Völker am europäischsten ist, obwohl die Kroaten katholisch sind wie die Westeuropäer, die Serben orthodox wie die meisten Slawen, während die Muslime oft „Türken“ genannt werden. Sarajevo war den typisch europäischen Einflüssen, der Musik, der Mode, dem Film gegenüber offener als die meisten Städte Kroatiens oder Serbiens. Man gewinnt den Eindruck, daß gerade die Muslime Sarajevos sich den Geist der europäischen Dekadenz zu eigen gemacht haben. Wer sagt uns also, wie das historische Erbe Bosniens zu teilen ist? Wer hat Recht worauf?

Gewiß ist nur, was die nationalen Armeen heute ausschließen: dieses Erbe gehört allen, es ist für immer in der Seele der bosnischen Muslime, Kroaten und Serben tief eingeschlossen. Ich glaube nicht, daß die Muslime die Brücke von Mostar mehr beweinen als die Kroaten selbst. Ich bin überzeugt, daß die serbischen Kommandos, die damit beauftragt sind, alle Moscheen Bosnien-Herzegowinas zu sprengen, um die türkische Erblast loszuwerden, die Fundamente des Lebens in Bosnien selbst vernichten.

Als in Belgrad innerhalb der kommunistischen Institutionen die Tschetnik-Bewegung auftauchte, sprach man von „Konterrevolution“. Als der Krieg begann, sagte man, das sei die Konterrevolution, bezogen auf den Zweiten Weltkrieg.

Künftig wird man noch weiter in die Vergangenheit eintauchen müssen, um zu verstehen, auf was bezogen dieser Krieg eine Konterrevolution darstellt.

Bezogen auf die Weltanschauung und die moderne Lebensweise, im Namen einer ländlichen, intoleranten und versteinerten Mentalität? Oder ist es vielleicht eine Konterrevolution, bezogen auf die Normen und die menschliche Moral im allgemeinen? Oder handelt es sich, wenn wir etwa an die Brücke denken, um eine Revolution tierischer Instinkte gegen das Körnchen gesunden Menschenverstandes, das allen Zweibeinern schon in die Wiege gelegt wird? Wie soll man wissen, wo die Grenzen dieser Konterrevolution sind?

Offensichtlich ist nur, daß man dabei ist, alle Schichten kulturellen und moralischen Bewußtseins zu zerstören, die durch die schönen Bauwerke Bosnien-Herzegowinas symbolisiert werden. Unter ihnen waren die von Andric besungenen Brücken von diesem Geist am meisten durchdrungen. Unter ihnen suchte die Brücke von Mostar ihresgleichen. Sie ist es, die es am meisten wert ist, bedauert und ins Gedächtnis gerufen zu werden. So scheint es zumindest heute, wo ganz Bosnien sich ins Bedauern und die Erinnerung zurückzieht.

Aus dem Französischen von

Thomas Schmid