: Ein neues Jerusalem
Der Krieg in Filmbildern ■ Von Mariam Niroumand
Ganz berauscht vom eigenen Augurentum hatte der Medientheoretiker Paul Virilio im Telespektakel, das den Golfkrieg begleitete, seine kühnsten Spekulationen Wirklichkeit werden sehen. In der digitalen Direktübertragung, die den Zuschauer ins Cockpit eines F-117-Bombers zu versetzen schien, sah Virilio das „freundliche Gesicht des Krieges“: clean, logistisch, beherrschbar wie ein Video- Game. Der Pferdefuß: unter der „Tyrannei der Echtzeit“ werde die Freiheit der Medien, ja letztlich die der Aktivisten selbst begraben. Weder der Pilot, der sich nicht mehr auf sein Augenmaß, sondern auf die lichtschnelle Informationsverarbeitung hinter seinem Monitor verlassen muß, noch der CNN- Redakteur, der sozusagen direkt hinter ihm sitzt, und erst recht nicht der Zuschauer sind noch Herren des Prozesses. Von „Demokratisierung der Information“, ein Topos während des Vietnam-(Fernseh-)Krieges, kann für Virilio nicht die Rede sein. Es bleibe gar keine Zeit, einem General Schwarzkopf noch irgend etwas hinzuzufügen. Ein Gemisch aus Angstlust und Regression bestimme die Wahrnehmung moderner Kriege. Flugs hatte Virilio so alle Beteiligten gleichermaßen zu Opfern einer fast mythologischen Allmacht gemacht. Die Bilder, die zerbombte Brücken, hungernde Kurden oder Brandopfer in Krankenhäusern zeigten, hatte er wohlweislich nicht zur Kenntnis genommen.
Wer auch nur einen Tagesthemen-Beitrag zum Krieg in Bosnien gesehen hat, wundert sich nicht, daß es so still geworden ist um Virilio. Jeder einzelne Report, sogar der von Konferenztischen, betont die Unkontrollierbarkeit der Verhältnisse. Kein Monitor, kein computergesteuertes Aerogramm macht die Sache übersichtlich. Schon die gegenüberliegende Straßenseite wird zur gefährlichen Terra incognita.
Das hängt nicht nur damit zusammen, daß es sich nicht um einen Luftkrieg handelt. Es liegt auch nicht nur an dem Mythos vom „Bürgerkrieg“, vom unentwirrbaren Bruderzwist. Lange vor Ausbruch der Feindseligkeiten galt das Territorium als „Hexenkessel“. Von „Balkanisierung“ war immer dann die Rede, wenn einheitliche Staatsgebilde zu zerfallen, Unabhängigkeitskriege in geeinten Nationen auszubrechen drohten.
Kaum ein Beitrag widmet sich aber der Topographie, die Sarajevo in den Worten von Dževad Karahasan zu „einem neuen Babylon und einem neuen Jerusalem“ macht, und die genau deshalb so grauenhaften, antimodernen, antiurbanen Haß auf sich zieht.
Einer Stadt, die schon bei ihrer Gründung im 15. Jahrhundert von Gläubigen dreier monotheistischer Religionen bewohnt war – von Katholiken, Orthodoxen und Muslimen – und zu denen fünfzig Jahre später noch aus Spanien vertriebene sefardische Juden stießen. Karahasan bescheibt, wie die Stadt, von Bergen umschlossen, ein auf sich selbst verwiesener Mikrokosmos der Welt ist. Wie in der Kugel der Wahrsagerin sei in Sarajevo alles enthalten, was die Welt westlich von Indien ausmache. In der Mitte dieses „Schneckenhauses“ liegt die Čaršija, das Stadtzentrum, das auf den inneren Hängen der Berge von Wohnvierteln, Mahale genannt, umkränzt wird, in denen Muslime, Juden oder Katholiken zusammenleben. In der Čaršija kommen sie zusammen und realisieren das, was an ihrer Kultur universell ist: Handel, Solidarität, Konkurrenz, Weitergabe von Wissen.
Dieses Wechselspiel zwischen Partikularem und Universellem, offen und geschlossen, außen und innen, wiederholt sich in den Häusern, deren Gesicht der Innenstadt, deren Rückseite den Bergen, der Privatsphäre zugewandt ist, es wiederholt sich sogar in der Gastronomie der Stadt: Die dolma, eine gefüllte Fleisch-und Gemüsetasche, gilt als mißlungen, wenn die einzelnen Bestandteile nicht mehr herauszuschmecken sind. Für jeden Filmemacher könnte instruktiv sein, wie Karahasan den Unterschied zu Babylon beschreibt: Statt ineinander zu verschmelzen, bräuchten die einzelnen Kulturen hier die Besonderheit des anderen, denn nur in ihr artikuliere sich die eigene Identität; während in den meisten westlichen Gesellschaften das einzig zulässige andere in Wahrheit ein maskiertes Ich sei.
Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy hat – soweit mir bekannt ist – den bislang einzigen Film gemacht, der versucht, dieser besonderen Struktur Rechnung zu tragen, der Sarajevo betrachtet wie die besorgte Wahrsagerin ihre Kugel. Er ist im Juni 1992 in die Stadt gefahren und vielleicht hängt sein ausgesprochen manichäisches Bild dieses Krieges (es werden ausschließlich Serben für die Greuel verantwortlich gemacht, stets als Faschisten bezeichnet, etc.) mit dem relativ frühen Zeitpunkt zusammen. Lévy hat seinen Film „Ein Tag im Tod von Sarajevo“ genannt. Auf der letzten Berlinale rief er heftige, zwiespältige Reaktionen hervor, regelrechte Haßtiraden waren auf den Fluren zu hören, während andere wieder für die Auszeichnung des Filmes waren.
Der Film beginnt und schließt mit Porträtaufnahmen der Kuratorin Nermina; schon ihr Beruf ist eine symbolische Wahl. Mit müden Augen, stoisch in die Richtung der Schüsse blickend, beschreibt sie, sie sei eine andere geworden, nur noch mit Warten beschäftigt: warten, daß es Wasser gibt, warten, daß es morgen wird, warten, und schon nicht mehr genau wissen, warum. Nur einmal in dem gesamten Film lächelt sie ein bißchen: Als sie dem Filmteam zeigt, wie sie Zeichnungen von Ferdinand Hodler in einer Stahlkiste im Keller in dubiose Sicherheit gebracht hat. Natürlich lacht das gesamte Kino, wenn Nermina sarkastisch murmelt, sie müsse immer wieder an Baudrillards (Lévys Erzfeind) Schriften über die „Implosion der Zivilisation“ denken. Hier sehe man, daß dem doch eine Explosion von außen vorausgegangen sein muß. Wieder das Leitmotiv der Stadt: innen, außen, offen, geschlossen...
Wieder und wieder zeigt Lévy Bücher: Die verkohlten Restbestände der großen Staatsbibliothek, die Thorarolle der jüdischen Gemeinde, wie sie aus dem Schrank genommen und in eine Reisetruhe umgebettet wird. Vier monotheistische Religionen, einander auf Pergament gegenwärtig und in der Architektur der Stadt: Zwischen der Synagoge und der Kathedrale liegt nur ein winziger Schritt. Auf dem großen Friedhof haben auch alle nebeneinander gelegen.
Lévy hat die Journalisten der letzten freien Tageszeitung Oslobodjenje in dem Keller besucht, in dem sie seit Monaten miteinander leben und arbeiten. Vor dem Ausgang stehen Soldaten; nach Hause traut sich keiner mehr von ihnen; Recherchen laufen, so irgend möglich, über Telefon.
Zwar ist bei Lévy zu sehen, was man in der Tagesschau auch sieht: die zerfetzten Beine, die Kinder, die als kleine blasse Gespenster in schmutzigen Laken sitzen und auf ihre Armprothesen starren, eine Frau, die ihren Mann bei einem Granatangriff verloren hat, während sie mit ihm an der Bushaltestelle wartete, einen Heckenschützenangriff auf eine Gruppe von Leuten, die gerade jemanden zu Grabe getragen hatten. Aber wieder und wieder kommt er auf den Trotz zurück, mit dem die Belagerten etwas verteidigen, was ihnen selbst schon lange nicht mehr und vielleicht nie wieder zukommen wird.
Grotesk, die Gesten der Zivilisation: Ein Mann, an Krücken durch das völlig zerschossene, zum Teil ausgebrannte Krankenhaus humpelnd, zieht eine der letzten noch erhaltenen Türen zu einem verwüsteten Raum zu, der schon fast auf der Straße liegt. Für Lévy ist Sarajevo eben nicht der Hexenkessel, in dem der Erste Weltkrieg begann, sondern das Symbol eines gewitzten, gelassenen und stolzen Universalismus, dessen Zerstörung eben auch überall bezahlt werden muß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen