Die Mythen des Krieges

Über die Nutzbarmachung alter Helden und die Funktion der Gene, des Blutes und der Gräber  ■ Von Ivan Čolović

Die neuen politischen Ideen in Ex-Jugoslawien und die Motive, die den Kriegen zugrunde liegen, beruhen weitgehend auf Mythen. Betrachten wir hier einige Grundelemente der politischen und militärischen Mythologie, wie sie vor allem in den Medien Serbiens und der von Serben kontrollierten Gebiete gepflegt wird.

Man wirft den serbischen Nationalisten – und auch ihrem kroatischen Pendant – oft vor, sie würden sich zu stark mit der Vergangenheit herumschlagen und sich zuwenig um die Gegenwart und die Zukunft kümmern. Das ist nur zur Hälfte wahr. Der nationalistische und kriegerische Diskurs nämlich setzt sich nicht nur über die Gegenwart und Zukunft, sondern auch über die Vergangenheit hinweg. Der Diskurs bietet uns eine mythische, antihistorische Wahrnehmung von Zeit an: Es gibt nur eine ewige Gegenwart oder eine ewige Wiederkehr derselben Zeit.

Dank dieser Wahrnehmung von Zeit, die von den einflußreichsten Medien aufgezwungen und verbreitet wird, konnte man die Wiederauferstehung nicht nur der Ustaschas und Tschetniks – der kämpfenden Verbände des Zweiten Weltkrieges – erleben.

Auferstanden sind zugleich die Helden und die illustren Ahnen aller Zeiten, unter ihnen auch die legendären und mythischen Gestalten.

In der mythologischen Inszenierung sind unsere politischen und militärischen Chefs von den berühmtesten Persönlichkeiten, von der Crème de la crème der nationalen Geschichte und Folklore, umgeben und beschützt.

Die Überzeugung, daß die Ahnen wieder unter uns seien, wird auch dadurch bestärkt, daß man diese in unseren heutigen Führungspersönlichkeiten inkarnieren läßt.

Immer wieder wird uns suggeriert, Serbiens Präsident Milošević sei in Wirklichkeit der wiederauferstandene König Karadjordje; der rechtsradikale Politiker und Milizenchef Ražnatović alias Arkan sei unser neuer Miloš Obilić, der legendäre Held, der in der Schlacht auf dem Amselfeld den Sultan Murat tötete.

Und in gleicher Weise werden die vom Regime Tudjmans kontrollierten Medien Kroatiens nicht müde, uns wissen zu lassen, daß sich die Väter der Nation, von König Tomislav bis Fürst Ban Jelačić, über die Stimme des kroatischen Präsidenten ans Volk wenden.

Die Ahnen, Gründer und Beschützer der Nation, erstehen wieder auf. Sie sind wieder da – via Reinkarnation, aber auch dank der Genetik.

Seit undenklichen Zeiten fließt in den Adern der Angehörigen eines Volkes dasselbe Blut, und dieses unsterbliche Blut bestätigt die ethnische Identität und Einheit jenseits des historischen Schicksals eines Volkes.

Im Rahmen dieses Mythos von ethnischem Blut wird heute eine pseudowissenschaftliche Theorie der Gene entwickelt: Danach werden die Eigenschaften, die Talente und die Neigungen eines Volkes im Blut aufbewahrt und von ihm weitergegeben.

Selbst die Liebe zu dem zehnsilbigen Vers, wie er in den serbischen Heldenliedern üblich ist, und das Talent für die Guzla, das einsaitige Instrument, auf dem diese Lieder begleitet werden, sollen über die Gene weitergegeben werden.

Den politischen und poetischen Erfolg Radovan Karadžićs garantiert, erklärt und legitimiert angeblich die Tatsache, daß der bosnische Serbenführer die vaterländischen und künstlerischen Gene von seinem großen Namensvetter Vuk Karadžić ererbt hat, dem Reformator der serbischen Sprache und Literatur, einem der Gründerväter der serbischen Nation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

In einem BBC-Dokumentarfilm sieht man Karadžić, wie er in Vuks Geburtshaus vorführt, wie gut er Guzla spielen kann. Aber die wirklich starke Szene dieses Films zeigt den heutigen Karadžić, wie er auf ein Detail des Porträts des vergangenen Karadžić weist. Auf ein Detail, das das wunderbare Werk der Gene verrät: Das kleine Löchlein im Kinn des alten Karadžić findet sich auch im Kinn seines angeblichen Nachkommen wieder.

Unsere politische Mythologie und unsere Kriegsmythologie sind auch von einem besonderen Begriff des Raums bestimmt: In diesem mythischen Raum ist die historische Zeit angehalten. Die historischen Ereignisse werden von der diachronischen auf die synchronische Achse projiziert. Dieser mythische Raum ist von einem Netz symbolischer Orte überzogen: von Klöstern, Türmen, Schlachtfeldern, Bächen, Wäldern und heiligen Bergen.

Die privilegierten Orte dieser mythischen Topologie aber sind die Gräber. Sie symbolisieren die Keime der nationalen Erneuerung, die eine Rückkehr zum Tod zunächst voraussetzt, und zugleich die Wurzeln des Volkes, die dieses mit der Erde seiner Ahnen verbinden.

Dieser Symbolismus „Gräber gleich Wurzeln“ hat heute, zu Zeiten interethnischer Kriege um Territorien, besondere Bedeutung erhalten. Der ethnische Raum nämlich und das Recht einer Ethnie, Souverän eines Territoriums zu sein, werden auf Basis einer morbiden Geopolitik definiert – in Funktion der Vorkommen von Gräbern der Vorfahren. So wird man dann nicht müde, immer wieder zu wiederholen, daß Serbien überall dort ist, wo es serbische Gräber gibt.

Auf Grundlage dieser mythopolitischen Konzeptionen oder vielmehr Bilder von Raum und Zeit wird in unseren nationalistischen und kriegerischen Diskursen der Wert von Handlungen, Gefühlen und Ideen gemessen.

Ganz oben auf der Werteskala stehen dann: der Tod für das Volk, das notwendige Opfer zu dessen Erneuerung und territorialer Verwurzelung, das Gefühl ethnischer Zugehörigkeit, die Kultivierung der Symbole dieser Zugehörigkeit (Uniform, Religion, Volkstraditionen, Schrift), das Mißtrauen gegenüber dem anderen und Verschiedenen, vor allem gegen den Westen.

Was die Begriffswelt betrifft, stehen oben: die nationale Einheit und die ethnische Essenz, die die individuellen Schicksale bestimmen, dann der Begriff der Reinheit und der genetischen und moralischen Gesundheit des Volkes sowie schließlich der Begriff der Natur.

Die Natur ist die große Göttin unserer politischen und Kriegsmythologie geworden. Nur die Bauern und die Krieger leben, so will es diese Mythologie, in völliger Übereinstimmung mit der Natur. Erstere, weil sie der Erde verhaftet sind, die Volkstraditionen des heimatlichen Bodens bewahren und sich nicht mit den Fremden vermischen; die zweiten, weil sie dem Feind gegenüber den natürlichen Instinkt des Hasses und des Kampfes bewahrt haben. Das Amalgam der beiden, der Bauern-Soldat, wird zum Modell des natürlichen Menschen schlechthin.

Diese gesunde, reine, widerstandsfähige, volksnahe und kriegerische Natur hat im Bild ihrer Antipode – der Anti-Natur – einen Gegner. Die Anti-Natur erscheint auf drei Ebenen. Zunächst auf der Ebene des Familienlebens: in Form gemischter Heiraten, aus denen Kinder hervorgehen, die Konfusion in die natürliche Ordnung der Dinge bringen, das heißt ins mythische Bild von uns und den anderen, die in einer fatalen Opposition zueinander stehen und sich bekämpfen.

Die gemischten Heiraten sind in den Städten häufiger als in den Dörfern. Die Städte kennen zudem noch weitere Formen des Künstlichen: die Koexistenz von Kulturen, Religionen und Rassen, den Komfort, die Demokratie, den Kosmopolitismus, den Pazifismus. Wenn man diesen Begriff der Natur zugrunde legt, hat also Sarajevo das Schicksal, das es ereilt, mehr als verdient. Denn es war eine unlebbare, eine widernatürliche Stadt, verfault, ungesund, kosmopolitisch, sie war zum Tod verurteilt.

Dasselbe Schicksal könnte Belgrad ereilen, das von der gegenwärtigen Mythopolitik ebenfalls als eine kranke Stadt angesehen wird.

In einer Zeitschrift, die in Pale (20 Kilometer außerhalb Sarajevos, Hauptquartier von Karadžić, Anmerkung der Redaktion) erscheint, konnte man folgendes Urteil lesen: „Belgrad ist eine Hure Titos. Es hält sich für jugoslawisch, für kosmopolitisch, für demokratisch. Nur was es ist, will es nicht sein: serbisch.“

Die widernatürlichen Städte und Familien sind tristes Resultat eines größeren künstlichen Gebildes: des jugoslawischen Staates, dieses ungenießbaren Cocktails von Völkern, Religionen, Sprachen und Schriftarten.

Um diese kurze Übersicht über die Elemente unserer politischen und Kriegsmythologie abzuschließen, will ich noch ihre wichtigsten Figuren nennen: Das sind auf der einen Seite der Führer und der Krieger, auf der andern Seite der Feind und der Verräter. In der mythologischen Überhöhung der Politik und des Krieges kommt diesen Figuren eine märchenhafte Dimension zu.

Der Konflikt zwischen Menschen wird auf eine mythologische Bühne projiziert und verwandelt sich so in einen Kampf von Helden gegen Monster, bei dem es um das Schicksal der Menschheit schlechthin geht. So gesehen, kämpfen die braven Serben und Kroaten nicht im eigenen, besonderen Interesse, sondern sie kämpfen für einen universellen Wert, für die Zivilisation, für die menschliche Würde.

Der Führer opfert sich für sein Volk auf, arbeitet unermüdlich für dessen Glück und nimmt zunächst die Vaterrolle ein. Die Anhänglichkeit und die Liebe, die ihm seine Untertanen-Kinder entgegenbringen, sind jedoch nicht ungetrübt. Denn die unumschränkte Macht des Führers hat ihre Schattenseiten. Vor ihm ist man innerlich blockiert, voller Respekt, der aber auch in Widerwillen umschlagen kann.

Denselben Widerspruch finden wir in der Figur des Kriegshelden. Er opfert sich für uns auf. Er stellt sich zwischen uns und den Tod, der uns bedroht. Er nimmt alles auf sich: die Mühen, die Kälte, die Verwundungen, ja sogar den Tod. Aber dieser ständige Kontakt mit der Gefahr und dem Tod macht ihn zum anderen, zum Fremden, gegen den man dann auch Abscheu empfinden kann.

So wird also die Gefahr einer politischen Propaganda, die aus dem Mythos schöpft, begreiflich. Sie findet dort eine mächtige, aber schwer kontrollierbare Kraft, weil es eine irrationale, unbewußte, traumhafte Kraft ist. Ihre wirkliche Domäne ist die Religion und vielleicht auch die Kunst.

Die nationalistische Politik und die Kriegspropaganda nehmen die Macht der Mythen in ihrer aggressiven Form auf und lassen sie in einer unverantwortlichen, ja selbstmörderischen Art und Weise frei.

Deshalb also müssen wir in Ex- Jugoslawien, wo die politische Instrumentalisierung der Mythologie zum Alltag gehört, ihren Mißbrauch denunzieren und ein kritisches, entmythologisierendes, entmystifizierendes Denken erneuern und entwickeln. Es geht um ein neues, ein kritisches Herangehen an die Geschichte, an die Kultur und an die Politik.

Wir brauchen hierbei nicht bei Null zu beginnen. Wir können uns auf das reiche Erbe beziehen, das uns mehrere Generationen serbischer, kroatischer, slowenischer, bosnisch-herzegowinischer, montenegrinischer und mazedonischer Intellektueller und Politiker hinterlassen haben, die sich bemühten, im Raum, den wir inzwischen Ex-Jugoslawien zu nennen pflegen, zur Entwicklung moderner Gesellschaften beizutragen.

Aus dem Französischen von

Thomas Schmid