„Die Kette“

An meinen deutschen Freund  ■ Von Emina Čabaravdić-Kamber

Lieber Freund!

Das Schicksal läßt sich nicht betrügen. Vor einigen Nächten träumte ich, daß meine jüngere Schwester Mirsada mich besucht und von mir die Hälfte unserer Kette zurückverlangt. Vor vielen Jahren hatten wir aus zwei kürzeren Perlenketten eine lange zusammengesetzt. Manchmal hatte Mirsada sie getragen, manchmal hatte ich sie mit nach Hamburg genommen. In meinem Traum fragten wir uns, wer sie zuletzt getragen haben mochte und bei wem sie jetzt wohl sein könnte. In meinem Traum sah ich, wie meine Schwester ihre Hand öffnete und weißer Sand ihre Handflächen bedeckte. Auf diesem Sand lagen viele Augen. Überall nur diese Augen, dieser Sand. Unter meinen Fußsohlen spürte ich die weißen Sandkörner. Meine Füße sanken immer tiefer hinein. Ich senkte den Blick, schloß die Augen und sah trotzdem alles. In mir ein grausames Gefühl der Leere. Mirsada war verschwunden. Um mich herum nur diese Augen, dieser Sand. Als Mirsada wieder in meinem Traum erschien, hielt sie unsere Perlenkette in der Hand.

Lieber Freund, in dem Traum sah ich eine Straße und hörte unsere Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Die Straße war leer, typisch für einen frühen Sommernachmittag in meiner Heimat, wenn die Sonne am stärksten brennt. Wir gingen ein Stück, versunken in die eigenen Gedanken. Plötzlich drang aus einem der Häuser leise Musik. Meine Schwester nahm meine Hand und sagte: „Emina, diese Violine beweint jemanden.“ Ich hörte nicht auf sie und bedeutete ihr mit einer Geste, sie möge schweigen. Die Musik war wunderschön, wurde immer weicher und leiser. Mir schien, als hörte ich das Rauschen des Meeres und in der Ferne ein leises Schluchzen. Dann plötzlich zerriß der gläserne Aufprall vieler Perlen auf dem Pflaster die erahnte Stille. Die Kette war Mirsada entglitten, und die Perlen tanzten in alle Richtungen davon, verschwanden in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. In diesem Moment wachte ich auf. Ich wußte nicht, wie spät es war, stand auf, machte das Licht an und begann, in Schubläden, auf Regalen, im Schrank, überall nach der Kette zu suchen. Lieber Freund, ich weiß nicht, ob Du das kennst – wenn Du im Traum etwas verlierst und mitten in der Nacht aufstehst, um danach zu suchen. Ich suchte die Kette die ganze Nacht. Schließlich fand ich sie. Sie war also bei mir.

Die Perlenkette hat ihre eigene Geschichte. Es war im Jahre 1969, als sich mein Babo entschloß, die Pilgerfahrt nach Mekka zu machen. Eine solch heilige Reise durfte nur derjenige machen, der ein guter und ehrlicher Mensch war und der sich das Geld für die Reise selbst verdient hatte. Dieser Mensch durfte keine Schulden haben und sich mit niemandem im Streit befinden.

Die Abreisezeremonie dauerte sieben Tage. Eines Tages war es dann soweit. Nachbarn, die Familie, Freunde und Bekannte kamen zusammen. Alle brachten Geschenke für meine Mutter, denn sie war die Frau, die nach der Abreise ihres Mannes vierzig Tage lang im Haus bleiben würde, um auf ihren „Guru“ zu warten. Vierzig Tage lang würde sie nicht kochen, saubermachen oder waschen müssen. Vierzig Tage lang würden die Nachbarn das Essen ins Haus tragen, ihr Kaffee und Limonade anbieten – den Kaffee für den Seelendurst, die Limonade für den Kehlendurst.

Einige Tage nach der Abreise meines Babo fuhr ich von Hamburg aus in meine Heimat, um den Empfang des Vaters zusammen mit meinen zehn Geschwistern vorzubereiten. Der Tag kam, an dem meine Mutter an der Pforte ihrem „Guru“ zur Begrüßung die Hand küßte. Wir, die sieben Töchter, taten es ihr gleich. Abseits, am Rande standen meine vier Brüder und hießen unseren Vater ebenfalls willkommen. Babo war vierzig Tage lang in der Wüste gewesen. Er war bis zum Berg gepilgert, auf dem der Prophet Moses die Zehn Gebote empfangen hatte. Wir blickten ihn mit Bewunderung an. Seinen Körper bedeckte ein weißes Gewand, darunter trug er leichte Sommerkleidung. An seinen Füßen Apostelschuhe, auf seinem Kopf der berühmte Turban – das Zeichen eines Hadžis.

Und dann geschah für uns Kinder ein Wunder: Babo zog sein Gewand aus, breitete es in der Mitte des Zimmers aus und bat uns, uns rundherum auf den Teppich zu setzen. Dann begann Babo Geschenke auszupacken: rote Seide aus Medina für Mirsada, Bedra und Hikmeta, Kajalpulver vom Berg Sinai für Emina, Fedha, Sadeta und Senija, weiße Seide aus Mekka für unsere Mutter, und zwischendurch kleinere Geschenke für meine vier Brüder. Es war eine Rückkehr, die sich mit nichts vorherigem vergleichen ließ: Wir glaubten, nach Kibla versetzt zu sein, wo die Sonne ewig auf- und nie untergeht.

Schon hielt es uns Kinder nicht länger auf unseren Plätzen: wir wollten aufstehen und auf die Straße gehen, um den Leuten draußen zu zeigen, was unser Babo uns von der Pilgerfahrt mitgebracht hatte. Doch Babo verlangte noch einen Augenblick Geduld. Mit einem Augenzwinkern gab er unserer Mutter und meinen Brüdern zu verstehen, sie mögen sich erheben. Das, was nun komme, betreffe nur uns sieben Mädchen. Seine sieben Töchter bat er, die Augen zu schließen. Dann hörten wir ihn mit leiser Stimme sagen: „Ich habe sieben Perlenketten für meine sieben Perlen.“ Wir durften unsere Augen wieder öffnen. Vor uns auf dem weißen Gewand hatte Babo ein weinrotes Samttuch ausgebreitet. Und darauf lagen sieben Perlenketten. Kristallperlen sah Babo in diesem Moment auch in unseren Augen, wischte eine nach der anderen von unseren Gesichtern und gab keiner Träne die Möglichkeit, sich auf seinem Gewand zu verlieren.

Meine Schwester Mirsada und ich beschlossen, die Perlen unserer beiden Ketten zu einer langen gemeinsamen Perlenkette aufzureihen. Danach trugen wir diese Kette immer abwechselnd, mal sie, mal ich.

Lieber Freund, Babo hat uns oft gesagt, es sei gut, die Kette für schlechte Zeiten aufzubewahren. Wir könnten ja zum Beispiel einmal in Hungersnot geraten. Wir hielten den Gedanken für richtig, dankten unserem Vater und nahmen seine Worte in uns auf.

Nach meinem Traum blieben mir zwei Tage Zeit, darüber nachzudenken, welche Bedeutung er wohl hatte. Am dritten Tag erhielt ich von meiner Familie die Totenmeldung. Mahir, der 18jährige Sohn meiner Schwester Mirsada, war im Krieg erschossen worden.

Lieber Freund, in meinem Traum suchte Mirsada die zweite Hälfte unserer Perlenkette. Ob meine Schwester in Hungersnot ist, ob die Violine in meinem Traum jemanden beweinte – ich weiß es nicht. Die Wunden häufen sich. Sie werden irgendwann heilen. Doch die Narben werden ewig bleiben.Hamburg, Oktober 1993