Der Bericht von Elma

„Medica“ spricht mit Frauen über Vergewaltigungen  ■ Von Cornelia Gürtler

Auf dem von Militär zerfahrenen Weg zum verschneiten Bergbau- Städtchen Vares sind gegen die Kälte vermummte Muslime mit bepackten Pferdeschlitten unterwegs. Manche haben sich aus den verlassenen Wohnungen geflüchteter Kroaten geholt, was sie brauchen. Musafer Begić, Polizeihauptmann in der Wache in Vares, bedauert, daß die bosnische Stadtverwaltung, seit einer Woche wieder im Amt, das nicht verhindern konnte. Sie wünschte sich die Rückkehr der 15.000 kroatischen Mitbürger, die seit dem 24. Oktober in großen Trecks ihre Stadt verlassen haben. Doch jetzt sind sie unerreichbar jenseits der Frontlinie, die meisten im 50 Kilometer entfernten Kiseljak. Auch dort haben Kroaten, Muslime und Serben zusammengelebt, verwandt, verschwägert, befreundet. Doch heute sitzen dort Ustascha-Uniformierte an den Kreuzungen, muslimische Geschäfte sind zertrümmert. Kiseljak ist ein muslimfreier Standort der HVO, des kroatischen Verteidigungsrates.

Im weißen UN-Jeep und kugelsicherer Weste bin ich mit der bosnischen Psychotherapeutin Marijana und der Gynäkologin Monika Hauser unterwegs. Sie wollen Frauen ansprechen, die Opfer von Kriegskriminalität geworden sind und ihnen Aufenthalt im Frauentherapiezentrum Medica im Zenica anbieten. Besima, eine bosnische UN-Mitarbeiterin, hat uns mitgenommen. Zum Glück, denn seit der Medica-Jeep von einer paramilitärischen Bande gestohlen wurde und Diesel 30 Mark pro Liter kostet, ist es schwierig geworden, zu den Frauen an der Front zu gelangen.

In Vares baumelt seit dem 4. November die bosnische Fahne am Rathaus, ein trauriger Anblick in dem geplünderten, teilweise ausgebrannten und von der Not bedrohten Ort. Vor dem Krieg lebten hier 22.000 Menschen: 40 Prozent KroatInnen, 30 Prozent MuslimInnen, 16 Prozent SerbInnen. Nur 5.000 Personen, meist Muslime, sind noch da. Buntscheckig zusammengewürfelt sind die Militärklamotten der bosnischen Soldaten, die seit diesem Tag wieder die Stadt beherrschen. Mate Bobans HVO-Verbände, die in Vares im Juli 1992 den Quasi-Staat Herzeg- Bosna ausgerufen hatten, mußten den Ort Ende Oktober wieder räumen: bosnische Einheiten (Armija RBiH) eroberten die Stadt zurück.

Der Polizist Begić führt uns zum Elternhaus der 19jährigen Elma, eine der wenigen, die ihre Vergewaltiger anzeigte. Elma, Feridas (26), Melisa (20) erwarten uns. Elmas Mutter legt unsere nassen Schuhe auf den Ofen, gibt uns Hausschuhe, eine warme Mahlzeit, türkischen Kaffee und ein Dessert aus gezuckerten Rosenblättern. Sie erzählen, wie es war:

Die Erniedrigungen begannen im Juli 1992, als die bosnischen Beamten und Polizeikräfte die Stadt verlassen und der kroatischen Militärregierung überlassen mußten. An den Checkpoints entlang aller Ausfallstraßen wurden Muslime drangsaliert: jedes Stück Seife, jedes Zigarettenpaket, jedes Kilo Zwiebeln kassierten die Militärs. MuslimInnen waren vogelfrei, wurden angepöbelt, angefaßt. Um Vares zu verlassen, mußten sie beim Rathaus eine Erlaubnis beantragen, selbst für einen Besuch im nächsten Ort. Kroatische Freunde wurden eingesperrt, um sie zu zwingen, in HVO-Uniform bosnische Dörfer anzugreifen. Doch die Freundschaften blieben – in privaten Nischen.

Am 23. Oktober, dem Tag des Massakers und der Vergewaltigungen in Stupni Dol, 15 Kilometer weiter in den Bergen, wurde eine kroatische Besucherin bei Elma von HVO-Soldaten angetroffen: „Du hilfst Muslimen, du Schlampe, während Kroaten für dich an der Front sterben. Wir werden deine Mutter vergewaltigen!“ Tags darauf wurde dies Realität. Zweitausend HVO-Soldaten aus Kiseljak und Kakanj waren zusammengezogen worden, um den Ort systematisch zu plündern, bevor er aufgegeben wurde. Um zehn vor sieben brachen drei von ihnen Melisas Tür auf. Ihr Vater sprang vor Angst aus dem vierten Stock, die Soldaten fanden ihn auf dem Dach darunter: „Warum springt er aus dem Fenster? Jetzt müssen wir ihn töten.“ Sie ließen ihn liegen, weil er bewußtlos war – drei Tage lang. Sie durchwühlten alles, bedrohten, verhörten, Mutter und Tochter einzeln, nahmen Schmuck und Geld mit. In der ganzen Stadt wurde in die Luft geschossen, 600 Männer und Jungen mit erhobenen Händen an Zäune gestellt und dann in eine Schule gesperrt. Ab diesem Tag war das Telefon abgestellt, durften Muslime nicht mehr arbeiten. Kein Kroate durfte ihnen etwas verkaufen.

Zu Elma kamen vier Soldaten. Vater und Nachbar wurden gleich abgeführt. „Einer war noch ein Kind. Mit dem Maschinengewehr zwang er mich, meine Sachen zu packen, zurückzulassen und mitzukommen. Ich dachte, sie töten mich jetzt.“ In einem Keller wurde sie mit vielen Nachbarinnen und ihren Kindern eingesperrt und bewacht. „Mitkommen!“ hieß es für eine nach der anderen, auch für Elma. Wieder in ihr Elternhaus. Der Inhalt ihrer vorhin gepackten Tasche war verstreut wie das gesamte Inventar. Reis, Bohnen, Linsen, Kleider, Müll – alles lag ausgekippt auf den Fußboden. „Sie sagten, daß sie meine Mutter ficken würden, wenn ich nicht sage, wo das Geld sei.“ Im Elternschlafzimmer setzten sie der Mutter die Waffe in den Nacken. Zwischen den Kleidern fanden sie 700 Mark.

Das Wochenende verging in Angst und Schrecken. Elma und ihre Mutter verließen die Wohnung nicht. Am Montag kamen die Soldaten wieder, betrunken. Wieder wurden mehrere Frauen in einem Raum bewacht, einzelne wurden ausgesucht. Die anderen sollten den Soldaten Kaffee kochen und sich mit ihnen unterhalten, während die Waffen auf sie gerichtet waren.

Einer ließ sich von Elma zu ihrem Haus bringen. Er ging mit ihr ins völlig verwüstete Elternschlafzimmer. Ob sie einen Freund habe, ob sie Angst habe, ob sie sich nicht ausziehen und entspannen wolle. „Er war ekelerregend und betrunken, ich weinte.“ Er warf sie aufs Bett, küßte und penetrierte sie. Sie blutete stark. Sie mußte ihm das Fotoalbum zeigen, ihm einen Apfel waschen. „Lächle doch, niemand sieht, was wir gemacht haben.“ Er brachte sie zurück zu den anderen, suchte sich eine weitere Frau aus.

Elma wurde vom nächsten an der Hand ins Elternschlafzimmer geführt. Sie zittert aus Angst vor der folgenden Erniedrigung. „Warum hast du solche Angst, ich bin kein Vergewaltiger.“ Er zog sie aus. Warum sie nichts von ihrer Periode gesagt habe. Das sei der andere gewesen, sagte sie. Wie gemein der doch gewesen sei, er sei ganz anders. Sie solle sich waschen und was anderes anziehen. Sie solle mit ihm zusammen trinken, sich entspannen. Küssen, Streicheln, aufs Bett drücken. Penetration. Zurück in den Keller, es war inzwischen ein Uhr nachts, die Soldaten waren total betrunken.

Zwei weitere nahmen Elma und ein anderes Mädchen mit. „Los, mach schnell“ und „Machst du es mir?“ „Wenn ich muß, ja“, sagte sie. Auch er betrunken. Sie hatte panische Angst, er könne sie mit seinem Messer verletzen. Er warf sie auf den Fußboden. Er war der brutalste, er tat ihr sehr weh, sie weinte. „Hör auf zu weinen! Du bist schön wie eine Puppe.“ Ob es für sie auch so schön gewesen sei wie für ihn? Sie mußte sich zu ihm aufs Sofa legen, er küßte sie, schlief ein und hielt sie im Arm. Sie hoffte, er werde nicht aufwachen. Zwei andere Betrunkene weckten ihn mühsam. Elma mußte zurück in den Keller. Um drei Uhr morgens zogen die Soldaten ab.

Am 4. November nahm die bosnische Armee Vares wieder ein. Elma kann sich nicht mehr wohl fühlen. „Das war mein Haus. Es ist sehr schwer, hier zu sein. Hier ist es geschehen. Wenn mich jemand sieht, habe ich Angst, daß er es weiß. Die Frauen sprechen alle nicht darüber. Ich habe Angst, schwanger zu sein. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ Sie ist froh, daß sich drei fremde Frauen dafür interessieren. Eine Verbindung entsteht, eine Nähe, die uns alle froh macht. Die Medica-Frauen werden sie bald wieder besuchen. Sie überlegt bis dahin, ob sie mitkommen will.

Das Frauentherapiezentrum für traumatisierte – sexuell, körperlich und psychisch gefolterte – Frauen und Mädchen ist seit dem Aufbau vor fast einem Jahr durch Radio und Mundpropaganda in Zentralbosnien bekannt. In Zenica und Visoko, in drei Häusern von Medica, werden fünfzig Frauen und Mädchen stationär behandelt und siebzig ambulant. Sie haben ähnliches wie Elma erlebt und sind alle Opfer von drei Wellen der Vertreibung: in Nordbosnien durch serbische Faschisten, in Südbosnien seit der Ausrufung von Bobans faschistischer Republik Herzeg-Bosna und schließlich der dritten Welle: die gegenwärtig das bosnische Restgebiet systematisch zerstückelnden Stellungskriege von serbischen Tschetniks und kroatischer HVO entlang den Frontlinien.

Die psychotherapeutischen Gespräche sind um so schwieriger, je weiter die Traumatisierung zurückliegt. Daß die Frau professionelle Zuhörerinnen findet und/ oder sich anderen Opfern mitteilt, ist ein erstes Ziel. Depressionen, Angstneurosen, Konzentrationsstörungen, psychosomatische Leiden, Schlafstörungen, Gefühlsblockaden, Antriebsschwäche – diese Symptome verschwinden allmählich mit der bewußten Verarbeitung des Traumas in der Gesprächstherapie.

Die gynäkologische Ambulanz mit Operationssaal und Ultraschallgerät auch für Frauen und Mädchen aus Zenica, die psychotherapeutische Arbeit mit den Patientinnen, die beiden Kindergärten für insgesamt 150 Kinder, die Versorgung der stationären Patientinnen ist Milihas Arbeitsplatz. Sie ist Anästhesistin und unentbehrlich bei Schwangerschaftsabbrüchen und schwierigen Geburten. „Wir müssen dieses Projekt in die Zukunft planen. Wir arbeiten professionell genug, um es auszuweiten für alle Frauen, die jetzt in Konzentrationslagern sind“, sagt sie.

Nurka, die Soziologin, besucht regelmäßig alle 30 Flüchtlingsheime und versucht, in Zusammenarbeit mit Medica die Lebensbedingungen dort zu verbessern. „Hier arbeiten Serbinnen, Kroatinnen und Musliminnen zusammen. Auch die Patientinnen sind gemischt, das spielt bei Medica keine Rolle. Diese politische Haltung ist mir wichtig – als Gegengewicht zu radikalen muslimischen Tendenzen in Zenica.“

Duska leitet das Büro. „Für mich ist wichtig, daß Medica überlebt, denn Vergewaltigung ist immer eine Waffe. In diesem Krieg haben die Frauen gelernt, laut darüber zu sprechen.“ Diese Arbeitsplätze für vierzig muslimische, kroatische und serbische Bosnierinnen sind vom Geld der SpenderInnen und den Konvois abhängig.

Das Nadelöhr – der Transport durch die vom Aggressor okkupierten Gebiete – ist militärisch nicht zu sichern, ohne sich „einzumischen“, also die Menschenrechte zu verteidigen. Schon lange fordern deutsche humanitäre Organisationen vor diesem Hintergrund einen deutschen Konvoi, der vom Auswärtigen Amt in Bonn getragen wird. Bisher vergeblich.

Spendenkonto: Medica e.V., BLZ 380 500 00, Kto.-Nr. 45 000 163, Sparkasse Bonn