: Stehlen oder zerstören
Warum ich Angst davor habe, auf Berlins Straßen geschmuggelte Zigaretten zu kaufen ■ Von Zlatan Čabaravdić
Wenn ich in Berlin auf den Straßen Zigarettenschmuggler sehe, besonders häufig im Ostteil, wird mir übel. Nicht deshalb, weil ich nicht für weniger Geld mehr Zigaretten kaufen will. Im Gegenteil – ich täte dies genauso gerne wie viele andere. Aber ich kann es nicht. Aus Angst. Ich habe Angst, durch den Kauf von geschmuggelten Zigaretten noch einmal den Krieg zu „kaufen“, die Vertreibung, ein neues Leid, einen neuen Schmerz.
Slobodan Milošević und seine Clique haben mit der Zerstörung Jugoslawiens und im Namen eines künftigen Großserbien einen fast perfekten Plan für den „legalen“ Raub und Schmuggel ausgearbeitet. Sie haben die Gesetze und den Staat ad absurdum geführt. Sie haben das „allgemeine Chaos“ zum System gemacht. Und sie haben gezeigt, daß ihr System Wunder vollbringt, daß man ein potentielles Opfer zum Financier des eigenen Untergangs machen kann und daß der Mensch an der Zerstörung des eigenen Friedens, Lebens, Heims mitwerkelt – wenn er nur ein paar D-Mark sparen kann.
Als Anfang der 90er Jahre Schmuggler die Straßen und Marktplätze des ehemaligen Jugoslawiens mit Zigaretten, Alkohol, Devisen, Kaffee, Benzin, Waffen und Munition überschwemmten und der fliegende Handel legalisiert wurde, glaubten viele, nun sei die Demokratie gekommen. Überzeugt wurden sie von „Fachleuten“, die später in der Rolle von Ideologen national-chauvinistischer Bewegungen auftraten. Wie Papageien plapperten sie immer und immer wieder: „Wenn sich die Wirtschaft vom staatlichen Würgegriff befreit, wenn private Initiativen den Markt übernehmen, wird auch das auf dem alten kommunistischen System begründete politische Establishment abtreten müssen.“
Wem die Schmuggler Steuern zahlen und wo der Löwenanteil des Gewinns ankommt, welche Verbindung zwischen Schmuggel und Diebstahl auf der einen und den Treffen zur Unterstützung Slobodan Miloševićs, dem allgegenwärtigen National-Chauvinismus und der Formierung nationaler Milizen auf der anderen Seite bestand, das erklärten sie allerdings nicht. Und ebenso im dunkeln blieb, wie Dr. Radovan Karadžić Öl und Benzin im eigenen und im Interesse seiner Partei verkaufen konnte – und wer Herrn Mate Boban die Befugnis erteilt hat, lastwagenweise ungültige jugoslawische Dinar aus der Republik Kroatien anzukarren, um damit in ganz Bosnien D-Mark, Dollar, Franken und Schillinge zu kaufen. Nach offiziellen Angaben des bosnischen Innenministeriums wurden allein bei diesen beiden Geschäften mehrere Millionen D-Mark verdient. Und durch Steuer- und Zollhinterziehung kann ein Alkohol- und Zigarettenschmuggler zwischen 250.000 und 1.000.000 D-Mark in die eigene Taschen stopfen.
Die Fachleute haben uns auch nicht erklärt, wie die Mitglieder der ehemaligen jugoslawischen Armee und die Schlächter aus der serbischen Garde von Zeljko Ražnatović-Arkan in den Besitz der Listen von allen Nicht-Serben ausBijeljina gekommen sind, die in den Monaten vor dem Krieg auf dem Schwarzmarkt Waffen gekauft haben. Wie es außerdem möglich war, daß neben jedem Namen präzise die Art, der Typ und die Seriennummer der Waffe eingetragen war.
Doch hinter dem Vorhang dieser scheinbaren Kleinkriminalität liefen Vorbereitungen für eine Aktion, die gleichzeitig mit dem Überfall auf die Republik Bosnien-Herzegowina stattfand. Komplette Fabriken, Landwirtschaftsbetriebe, Baumaterial, Lkws, Autos, Kunstgegenstände, Haushaltsgeräte, Lokomotiven und Waggons, Militäreinrichtungen – alles, was man wegschleppen und wegtragen konnte, wurde aus Bosnien-Herzegowina gestohlen. Eingeweihte sagen, der Großteil dieser Reichtümer befinde sich heute in Serbien und Montenegro, aber auch Kroatien sei nicht zu kurz gekommen.
In der Vorkriegsphase war die Blockade des bosnisch-herzegowinischen Staates besonders von seiten der Serbischen Demokratischen Partei so gut vorbereitet worden, daß keinerlei Schutzmaßnahmen gegen den späteren Aggressor getroffen werden konnten. Selbstverständlich kam der SDS auch die ehemalige jugoslawische Volksarmee zu Hilfe, ebenso wie zahlreiche Schmuggler, von denen ein großer Teil nicht mal wußte, für wen er arbeitet. Um wenigstens annähernd festzustellen, wie viele Güter geplündert und aus Bosnien-Herzegowina weggebracht wurden, wären Jahre intensiver Arbeit nötig. Viele Dokumente sind vernichtet, viele Zeugen ermordet worden.
Viel leichter läßt sich ermitteln, was zerstört, verbrannt, vernichtet, mißgestaltet wurde, zuerst im Namen Großserbiens, später auch im Namen Großkroatiens. Der General Milutin Kukanjać, ehemaliger Kommandant der Armee im Gebiet um Sarajevo, rühmt sich in den letzten Monaten in der Belgrader Presse damit, daß er im Namen „des Erhalts des Serbentums im Gebiet Bosnien-Herzegowinas“ dutzendweise Fabriken und andere Güter nach Serbien und Montenegro geschafft habe. Alles das, was er nicht mitnehmen konnte und der Zukunft Bosnien-Herzegowinas nützlich sein könnte, hat er nach eigenen Angaben zerstört. Oder Dr. Vojislav Šešelj, der Vorsitzende der Serbischen Radikalen Partei: Er fiel während der Blütezeit des Schmuggels im ehemaligen Jugoslawien bei Slobodan Milošević in „Ungnade“ und stellte deshalb selbständig Tschetniktruppen auf. Später wurde er zu Miloševicś wichtigster Stütze, weil er der zuverlässigste Plünderer und Schlächter war. Inzwischen ist er beim Großen Herrscher wieder in Ungnade gefallen und sagt in der Öffentlichkeit, daß viele Morde, Verfolgungen und Plünderungen auf Anweisung von Milošević und dessen Mitarbeitern ausgeführt wurden.
Aber es gibt auch Räuber unter denen, die für die Republik Bosnien-Herzegowina kämpfen, die von sich selbst behaupten, für die Unabhängigkeit, die Souveränität und Einheit innerhalb der bestehenden Grenzen zu sein. Viel Geld und viele Wertgegenstände, die eigentlich für die Verteidigung bestimmt waren, sind in privaten Taschen gelandet. Im Laufe des Krieges wurden vereinzelte politische und militärische Funktionäre verhaftet, verurteilt oder bei gegenseitigen Abrechnungen ermordet. Eine Zeitlang wurden sogar Eliteeinheiten der bosnischen Armee und Polizei von der ersten Frontlinie zurückgezogen, um die Plünderer und Schmuggler zu stellen. Aber eine große Anzahl befindet sich weitab vom Zugriff des Gesetzes.
Ich könnte endlos Beispiele aufführen. Aber die bisher genannten reichen aus, um meine These zu illustrieren, daß der blühende Schmuggel im ehemaligen Jugoslawien die Ankündigung des großen Raubzugs gegen Bosnien-Herzegowina war. Die Plünderungen sind einer der entscheidenden Gründe für den Krieg gegen Bosnien-Herzegowina – und dafür, daß die Kriegsherren mit der Aufteilung Bosniens nicht aufhören können. Denn wenn Bosnien ein Land und ein Rechtsstaat werden würde und durch den Druck von verschiedenen Seiten vielleicht sogar auf die Verfolgung wegen Kriegsverbrechen und Völkermord verzichten würde, müßten viele dennoch wegen krimineller Handlungen ins Gefängnis. Es ist klar, daß es angenehmer ist, gleichzeitig selbsternannter Präsident eines erfundenen Staates, Diktator und Kommandant einer plündernden Horde zu sein, als im Knast zu sitzen – vor allem wenn man, wie viele der Kriegs- und Friedensherren in der Republik Bosnien-Herzegowina, bereits einige Gefängniserfahrung hat und nicht durch Gewissensbisse geplagt wird.
Man sagt, der Teufel hole sich immer das Seine. Ich bezweifle aber, daß die vertriebenen Bosnier, ausgeraubt und wegen der Verluste geliebter Menschen in Schwarz gekleidet, an den Teufel glauben. Ich für meinen Teil bin mir da sicher.
Wie einträglich und wirtschaftlich gerechtfertigt es auch sein mag, ich kann und darf keine geschmuggelten Zigaretten kaufen. Ich habe Angst, daß die Schmuggler in Berlin ein Vorzeichen sein könnten. Ein Vorzeichen für eine allgemeine Plünderung, für Verfolgung, für Abschlachtung, für Mord. Übersetzerin: Ana Prokić
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