„Nur ihre Pflicht getan...“

Amir M. war Gefangener der kroatischen HVO  ■ Von Erica Fischer

Sie dürfen auf keinen Fall meinen Namen nennen, mein Bruder ist noch im Lager“, sagt der schwarzäugige Mann mit den eingefallenen Wangen, der stets lächelt, wenn seine Erzählung besonders schlimm wird. Also nenne ich ihn Amir M.

Amir M. ist 40 Jahre alt, verheiratet und Vater einer sechsjährigen Tochter. Er ist von Beruf Dreher und lebte mit seiner Familie in einem Dorf bei Čapljina im Bezirk Stolac, unweit der Grenze zwischen Dalmatien und der Herzegowina. Heute gehört Čapljina zum international nicht anerkannten kroatischen Staat „Herceg- Bosna“. Als Anfang April 1992 der Krieg über die völlig unvorbereitete Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina hereinbrach, wurde der von Muslimen, Kroaten und Serben bewohnte Bezirk Stolac von den „Tschetniks“ eingenommen. Viele Kroaten kamen ins Lager, wurden jedoch später gegen serbische Gefangene auf kroatischer Seite ausgetauscht. Da die Muslime keinen eigenen Staat haben, durften sie bleiben und mußten zur Armee. Sechs Monate lang diente Amir M. der serbischen Militärpolizei.

Heute ist die Region „befreit“, sagt Amir M. Als die Serben den Kroaten wichen, wurden alle wehrpflichtigen Männer zur Armee der bosnischen Kroaten eingezogen. Amir M. legte die serbische Polizeiuniform ab, die HVO-Uniform an und diente sieben Monate lang den Kroaten.

Am 12. Juni 1993 entwaffnete die HVO alle Muslime ihrer Einheiten und verschleppte sie in Lager, obwohl es in Čapljina keine Kämpfe zwischen Muslimen und Kroaten gegeben hatte. Amir M.s Frau und seine Tochter befanden sich schon seit geraumer Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft, die in einer Schule untergebracht war. Am 12. Juni wurde auch Amir M. zusammen mit seinem Bruder festgenommen. Nach einer Zwischenstation in einem Lager im nahe gelegenen Gabela, wo 53 Männer in einen 15 Quadratmeter großen Raum gepfercht wurden, kamen sie am 16. Juni in das „Heliodrom“ nach Mostar. In dem stillgelegten Flughafen nahm man den Gefangenen alles ab: Geld, Armbanduhren, Goldschmuck, Kleider, Wehrpässe, Führerscheine, Personalausweise. Amir M. hatte 275 Mark und eine goldene Armbanduhr dabei, die ihm seine Firma zur zehnjährigen Betriebszugehörigkeit geschenkt hatte. Amir M. kam zusammen mit 63 anderen „Kriegsgefangenen“ in einen Keller des Heliodroms. Dort gab es keine sanitären Anlagen, und das Rauchen war verboten. Mahlzeiten wurden zweimal täglich verabreicht, am Morgen und am Abend, dazwischen vergingen zehneinhalb Stunden. Ein 750-Gramm-Brot für neun Männer, dazu eine Wassersuppe, Milch oder Tee.

Am 1. Juli wurden die „Kriegsgefangenen“ nach Čapljina zurückgebracht. In fünf großen Fahrzeugschuppen der jugoslawischen Armee im Stadtteil Dretelj waren 3.500 Häftlinge eingesperrt, ehemalige HVO-Soldaten wie Amir M. ebenso wie Zivilisten, 15jährige wie 80jährige. Die HVO-Uniform, die Amir M. noch trug, mußte er ablegen. Es blieben ihm ein T- Shirt, eine Badehose und das Paar Militärhalbschuhe, das er an den Füßen trug. Irgendwer schenkte ihm eine Bermudahose. Es gab welche, die nichts hatten als eine einzige Unterhose.

Am 13. Juli wurden auch noch die Essensrationen gekürzt. Nur noch einmal täglich gab es Nahrung: ein 750-Gramm-Brot für fünfzehn Männer, dazu 15 Gramm Reis, Bohnen oder Makkaroni. Amir M. ist 1,83 Meter groß und wog früher 82 Kilo. Als er am 24. September entlassen wurde, wog er nur noch 59 Kilo. Es gab auch Männer, die bis auf 40 Kilo abgemagert waren. Jeder Gefangene hatte nichts als eine Decke, um sich vor der Härte und Kälte des Betonbodens zu schützen. In Amir M.s Schuppen waren 574 Männer untergebracht.

Von Juli bis September kam viermal ein Tankwagen mit Wasser vorbei, um die Gefangenen abzuspritzen. Zur Verrichtung ihrer Notdurft hatten sie zwei Eimer, die in der Nähe des Tors aufgestellt waren. „Das schlimmste waren die Läuse“, sagt Amir M., „und die Angst vor Typhus.“ Die 574 Männer mußten ihr Essen innerhalb von zehn Minuten hinunterschlingen, es war die einzige Bewegung, die den Gefangenen erlaubt war. Zu Trinken gab es in der Sommerhitze ein Glas Wasser am Tag. Wasser war das größte Problem. Die Menschen verlangten eher nach Wasser denn nach Brot. Im Schuppen war es unerträglich heiß. Viele bekamen Nierenschmerzen, die vom kalten Betonboden nicht besser wurden.

Doch schlimmer noch als Durst und Hunger waren die Schüsse, die die HVO-Soldaten zum Zeitvertreib von außen auf die Blechwände des Schuppens abfeuerten. Um sich vor den Kugeln zu schützen, die das dünne Blech durchsiebten, legten sich die Männer auf den Boden und umwickelten ihre Köpfe mit Decken. Der Rest des Körpers lag ungeschützt auf dem Beton. Meistens schossen sie nachts, manchmal aber auch tagsüber. Jene, die schossen, stammten überwiegend aus Jablanica, Prozor und Bugojino... Sie schossen mit Vorliebe auf die Männer ihres eigenen Dorfs. 25 Menschen wurden während Amir M.s Haftzeit von Kugeln getroffen.

Die Häftlinge brachten ihre Tage schweigend zu, um die Aufmerksamkeit ihrer Peiniger nicht auf sich zu lenken. „Sei still“, zischten die anderen, wenn einer zum Sprechen anhob, „willst du, daß sie uns alle erschießen?“ Das monatelange Schweigen war quälend, die Ungewißheit, was mit der Familie ist, das Gefühl, von der Welt vergessen worden zu sein. „Alles andere war auszuhalten“, sagt Amir M. Einige führten auf dem Papier von Zigarettenpackungen Tagebuch. Amir M. hat auf diese Weise in zwei Monaten ein selbstgemachtes Heft vollgeschrieben, ein ganzer Packen war es schon. Doch als man ein solches Tagebuch bei einem Mithäftling fand, wurde er so gräßlich zugerichtet, daß Amir M. seines lieber verschwinden ließ.

Für Geld gab es auch Zigaretten. Zehn Mark verlangten die Fahrer der Lkws und Wasserwagen für acht Päckchen, ein vergleichsweise humaner Preis. Geld hatten manche in ihren Schuhen ins Lager geschmuggelt. Wer Angst hatte, es selbst auszugeben, bat einen anderen, es für ihn zu tun, und gab ihm von seinen Zigaretten ab. Wenn sie bei einem Häftling Geld fanden, bekam er vierzehn Tage Einzelhaft in einem unterirdischen Bunker. Dort gab es kaum noch Nahrung und alle zwei Stunden Schläge.

Als diese Unglückseligen in den Schuppen zurückgebracht wurden, waren ihre Augen verquollen, die Haut voller Wunden, etliche Knochen gebrochen. Von Juli bis September zählte Amir M. 53 Bunkereinweisungen und fünf oder sechs Knochenbrüche. Sieben Menschen haben diese „Sonderbehandlung“ nicht überlebt. In Dretelj holten sich die kroatischen Bewacher von Zeit zu Zeit einen geistig behinderten Moslem und hetzten ihn auf die Häftlinge, mit dem Versprechen, er dürfe alles behalten, was er finden konnte. Dem Friseur von Stolac wurde auf diese Weise das Genick gebrochen, zwei weitere wurden erwürgt. Die Bewacher fanden das amüsant.

Ärztlich versorgt wurden die Verletzten nicht. In der zehnminütigen Essenspause suchten die Mithäftlinge im Freien nach Stöckchen, um daraus Schienen für gebrochene Knochen zu basteln. Einer der Gefangenen im Schuppen war Arzt und hatte Verbandsmaterial dabei. Wenn es dunkel wurde, krochen die Verletzten zu ihm. Erst gegen Ende des Sommers stellte die HVO einen Sanitäter ein. Doch auch dann hieß es stets: „Wir haben keine Medikamente.“

Am schlimmsten war es gegen 10 Uhr abends. Da wurden die Tore des Schuppens geöffnet, und sie holten sich fünf oder sechs Mann aus der Menge und schlugen sie vor den Augen der anderen mit Gewehrkolben und anderen Gegenständen nieder. Drei Männer wurden mit dem Stiel einer Hacke erschlagen.

Amir M. überlebte. Die meisten, die im Lager etwas zu sagen hatten, stammten aus Čapljina, und Amir M. kannte sie gut. Nicht alle bei der HVO waren einverstanden mit dem, was sie tun mußten. Diejenigen, die den Auftrag hatten, ihn am 12. Juni nach Gabela zu bringen, haben bei seiner Festnahme geweint. Im Lager Dretelj wurde Amir M. auch manchmal ein Stück Zucker oder etwas Salz zugesteckt. Einer aus seiner HVO-Kompanie wollte ihm ermöglichen, daß er tagsüber den Schuppen verlassen konnte. Doch die Arbeit im Steinbruch war für Amir M. zu schwer, er leidet seit Jahren an Nierensteinen.

Diese Reste interethnischer Freundschaft sind Amir M. sehr wichtig. „Sie haben ja nur ihre Pflicht getan“, versucht er sie zu entschuldigen. Und: „Ich würde gleich wieder zur HVO gehen, wenn ich nur nach Hause zurückkehren könnte.“

Amir M. wurde bereits im Heliodrom vom Roten Kreuz registriert. Als die Helfer die Erlaubnis erhielten, auch Čapljina zu besichtigen, versuchte die HVO, ihnen ihre eigenen Leute als Flüchtlinge unterzuschieben. Als es auffiel, brachten die Leute vom Roten Kreuz eine Personenwaage mit. Wer nicht unterernährt war, hatte keine Chance.

Am 24. September wurde eine Gruppe von 500 Männern vom Roten Kreuz auf die kroatische Insel Korcula gebracht, wo Amir M. in einem Touristenhotel einquartiert wurde. Auch dort durfte er sich nicht frei bewegen, durfte nicht im Meer schwimmen. Doch er bekam Kleider und wurde wie ein Mensch behandelt. Er erfuhr, daß seine Frau und seine Tochter als Kontingentflüchtlinge in Deutschland in Sicherheit waren und seine Eltern in Čapljina auf die Ausreise nach Norwegen warteten. Zwei Wochen lang wurden sie in Korcula regelrecht aufgepäppelt: Fisch, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Milch, Marmelade... „Langt kräftig zu“, sagten die Polizisten, „damit ihr unterwegs nicht krepiert.“ In dieser kurzen Zeit nahm Amir M. sieben Kilo zu. Trotzdem mußte er die Hose verkaufen, die ihm seine Frau aus Deutschland geschickt hatte.

* * *

Als unser Pkw sich der Flüchtlingsunterkunft in einem Vorort von Gelsenkirchen nähert, hat Amir M. auf der Straße bereits einige Frauen aus seiner Ortschaft entdeckt, die sofort seine Frau benachrichtigen. Aus der Runde von Frauen, Kindern und einem alten Mann stürzt sie sich mit einem Schrei in seine Arme. Amir M. tätschelt ihr verlegen den Po. Die sechsjährige Sanela mit den schwarzen Kringellöckchen läßt sich zwar hochheben und drücken, dreht aber den Kopf weg. Aus seinen Armen befreit, läuft sie weg, kehrt aber bald wieder, um sich aus sicherer Distanz mit ernsten Augen den fremden Vater zu mustern. Als Amir M. zu erzählen beginnt, sitzt sie schon auf seinem Knie und hat den Arm um seine Schulter gelegt. Als wir uns verabschieden, ist Sanela nirgends zu finden. Sie spielt im Hof mit ihren Freundinnen.