„Sie haben uns weiter im Griff“

Zu Besuch bei einer bosnischen Familie in der Altstadt Sarajevos  ■ Von Erich Rathfelder

Das Essen ist schon angerichtet. Die Dame des Hauses bittet den Gast jedoch zunächst in die Küche, wo eine Schüssel mit warmem Wasser wartet. Eine Kostbarkeit in dieser Zeit, wo das Wasser von den Menschen mit Kanistern von Wasserstellen abgeholt werden muß. Das Händewaschen soll deshalb nicht versäumt werden. Denn die Menschen in der Altstadt Sarajevos halten fest an ihrem kultivierten Stil. Die Familie ist festlich gekleidet. Der Gast soll würdig empfangen werden.

Hier, in der Viereinhalb-Zimmer-Wohnung der Familie Alicehajić, atmet alles gutbürgerliche Häuslichkeit. Dort steht das Klavier, auf dem die 19jährige Tochter für ihr Studium an der Musikhochschule der Stadt zu üben pflegt, hier borden die Bücherregale über mit Werken der Weltliteratur. Herr Alicehajić hat früher einmal Germanistik studiert und ist auch heute noch in der Lage, „Heine, Frisch, Fichte, Hegel und Marx in der Originalsprache zu lesen“. Die klassische Musik habe es ihm angetan. „Ich bin eben ein echter Sarajevoer Muslim“, lacht er dem Gast entgegen.

Im Eßzimmer ist es mollig warm geworden. Da Frau Alicehajić als Chemikerin in ihrem Institut Zugang zu allerlei Geräten hat, brachte sie eines Tages ein Kupferrohr mit nach Hause. Das eine Ende wurde verschlossen und in die Form einer Schlaufe gebogen, in die einige Löcher gebohrt sind. Ein Schlauch führt zur Gasleitung in der Wand. Nun spenden die bläulichen Gasflammen aus den Löchern der Schlaufe nicht nur Wärme, sondern auch Licht. Denn der Strom ist in diesen Nachmittagsstunden wieder einmal ausgefallen. „Wenn alle gleichzeitig das Licht einschalten, sind die Leitungen überlastet“, erklärt der 20jährige Sohn, der als Graphiker bei einem Verlag arbeitet.

Endlich kommt das Essen auf den Tisch. Sorgsam werden dem Gast drei Löffel Reis, ein Löffel Kartoffelbrei und ein Schlag von einer rötlichen Soße zugeteilt. „Thunfischsoße und Reis, das ist unsere heutige Ration. Ein Büchse von dem Fisch steht jeder Person im Monat zu. Und der Kartoffelbrei ist ein Extra, an das wir sonst kaum zu denken wagen.“ Den Reis könnten die meisten Menschen in der Stadt schon nicht mehr sehen. „Wenn irgendeinmal der Krieg zu Ende ist, dann werde ich niemals mehr diesen geschälten Reis anrühren“, schwört der Sohn.

Auf den Tellern ist nichts liegengeblieben, selbst der letzte Krümel wurde aufgegessen. 624 Gramm Nahrungsmittel stünden jedem Bürger Sarajevos täglich zu, hatte noch am Morgen der Vertreter des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) bei der täglichen Pressekonferenz bekanntgegeben. Doch angesichts des schlechten Wetters Ende November und im Dezember seien nur 77 von 127 geplanten Hilfsflügen durchgekommen. „Und auf dem Landweg waren es nur drei Konvois, die anderen wurden von serbischer und kroatischer Seite gestoppt.“ So habe sich die tägliche Ration auf 240 Gramm verknappt.

„Wir sind zu einem Experimentierfeld für die Frage geworden, was Menschen alles auszuhalten imstande sind“, scherzt die Dame des Hauses. Seit Beginn der „Karadžić-Diät“, seit Beginn der Belagerung im Mai 1992, habe sie an die 20 Kilo abgenommen. Und ihr Mann, der damals Übergewicht hatte, so an die 40 Kilo. „Alle Leute aus Sarajevo können jetzt als models arbeiten, wir sind das schönste Volk der Welt.“

Plötzlich ist ein dumpfer Knall zu hören. Die gelassene Heiterkeit auf den Gesichtern ist tiefem Ernst gewichen. Eine Granate ist in der Nähe eingeschlagen. Niemand rührt sich, jeder lauscht, ob weitere Einschläge zu hören sind. Tatsächlich gibt es sie, doch sie scheinen weiter entfernt zu sein. Die Gesichter entspannen sich. Später wird es im bosnischen Rundfunk heißen, daß allein an diesem Tag, dem 9. Dezember, 360 Artilleriegranaten auf die Stadt gefeuert wurden. Es habe in dem Stadtteil Cengić Vila 10 Tote und Dutzende von Verletzten gegeben.

„Warum hilft uns niemand, warum läßt man uns mit diesen Barbaren allein?“ bricht es aus der Tochter. 2.000 Artilleriegeschütze seien auf Sarajevo gerichtet. „Wissen Sie, im August, als die Amerikaner drohten, die Stellungen der Tschetniks anzugreifen, rückten die französischen Unprofor-Truppen auf den Berg Igman vor und mischten sich unter die serbisch- nationalistische Armee.“ Die französischen Truppen hätten die Angreifer richtig in Schutz genommen. „Ist das die Antwort Europas auf diese verrückte Barbarei?“

Es klopft an der Tür. Es sind die Nachbarn, die zum Kaffee, dem Mitbringsel des Gastes, eingeladen sind. Herr Filipović ist „bosnischer Kroate“, wie er sogleich betont, und seine Frau Jovanka Serbin: „Jetzt erleben Sie unsere Sarajevoer Mischung.“ Die Welt beurteile den Krieg und Sarajevo falsch. „Wir wollen doch zusammenleben, wir sind eine moderne Gesellschaft, die Nationalisten der anderen Seite, die uns trennen wollen, leben doch im 19. Jahrhundert.“

Der Duft des Kaffees, in Bosnien nach türkischer Art gereicht, beruhigt die Runde. Endlich wieder einmal an dem schwarzen Getränk, dem ehemals unentbehrlichen Bestandteil des bosnischen Lebens, zu nippen, macht allen sichtlich Freude. „Kaffee und Schokolade, Kakao und andere Extras werden von dem UNHCR nicht transportiert.“ So sei der Schwarzmarktpreis für ein Kilo Kaffee auf 150 DM gestiegen. Zwar arbeite in der Stadt noch jeder an dem alten Arbeitsplatz, in Schulen und Universitäten, Krankenhäusern und sogar Fabriken, doch der Lohn sei mit 2 Mark im Monat nur ein symbolischer. „Unser Überleben hängt von der UNO ab, und wenn die uns keinen Kaffee geben will, gibt es eben keinen“, merkt Herr Filopović ironisch an.

Es ist dunkel geworden. Das „Karadžić-Gewitter“ hat aufgehört. Nur in einiger Entfernung sind noch Maschinengewehrsalven zu hören. Die Runde bemüht sich, den Gast weiter freundlich zu behandeln. Doch die Enttäuschung über die „unterlassene Hilfeleistung“ Europas ist nicht zu unterdrücken. „Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, nur auf unsere eigene Kraft zu vertrauen,“ sagt Herr Alicehajić schließlich. Und er weist auf die eigenen Versuche hin, das Überleben in diesem Winter zu sichern. Er lädt den Gast zu einem Spaziergang ein.

Der Weg führt vorbei an dem katholischen Dom durch den alten Basar, vorbei an der zerbombten Bibliothek den Miljacka-Fluß entlang. Bald ist eine Baustelle erreicht. Einige Milizionäre stehen herum, Arbeiter hantieren im Schutze der Dunkelheit an einem langen Rohr. Hier soll, so erläutert einer der Ingenieure, noch „in diesem Monat Wasser fließen“. Die Wasserversorgung Sarajevos sei nicht allein wegen der Kriegseinwirkungen zusammengebrochen, sondern auch, weil das Wasser vor dem Krieg flußabwärts aus dem Gebiet westlich der von serbischen Streitkräften besetzten Vorstadt Ilidza entnommen wurde. „Das hatte zwar gute Qualität, weil der dortige Sand- und Kiesboden ein idealer natürlicher Filter ist, doch mußte es in die höher gelegene Stadt gepumpt werden.“ Und die Pumpen könnten nicht nur durch die Artillerie zerstört werden, sie bräuchten vor allem Elektrizität. „Doch jetzt haben wir das Problem gelöst und entnehmen Wasser hier von oben.“ Der Wasserdruck des bereits erstellten Bassins reichte aus, um 60 Prozent der Bevölkerung mit fließendem Wasser zu versorgen.

Die Altstadt zieht sich einen Berghang hinauf. In einem der Gäßchen liegt das Haus des Ingenieurs Cacević, der seit langem für die Energieversorgung der Stadt zuständig ist. Bereitwillig gibt er Auskunft über den Stand der Dinge. „Seit einigen Tagen gibt es immerhin wieder Strom, bis zu 26 Megawatt am Tag. Vor dem Krieg haben allein die Haushalte der Stadt 200 Megawatt verbraucht. 26 Megawatt sind besser als gar nichts.“ Der Strom komme aus den Kraftwerken Zentralbosniens, aus dem Wasserkraftwerk von Jablanica und dem Kohlekraftwerk von Kakanj bei Zenica, das mit UNO- Hilfe wieder arbeiten könne. Dafür, daß der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić und der Kroatenführer Mate Boban den Strom nach Sarajevo hereinlassen – die Überlandleitungen führen über ihre Gebiete – muß ein Teil in die kroatischen Enklaven bei Bušovaća, Vitez und Kiseljak und in den serbisch besetzten Stadtteil Grbavića abgegeben werden. Letzterer erhalte 6 Megawatt.

Auf dem Rückweg in die Wohnung der Familie Alicehajić resümieren wir die Situation. Die Lage bezüglich des Wassers werde sich entspannen. Auch Strom und auch Gas gebe es, wenn auch nur in beschränkter Menge. Beim Gas habe es ebenfalls eine Absprache gegeben, komme es doch aus Ungarn, erläutert Herr Alicehajić. Über 97.000 Kubikmeter gelangen über die Grenze, 25.000 Kubikmeter kämen dann noch bis nach Sarajevo, der Rest würde von der serbischen Seite abgefangen. Die Telefone funktionierten wieder innerhalb der Stadt, und es könne manchmal sogar mit Strom oder Gas gekocht werden. Das sei schon eine Erleichterung und ließe hoffen, „daß wir hier in Sarajevo den Winter überleben können.“

In der Wohnung sitzt die restliche Familie vor dem Fernsehapparat. „Stellen Sie sich vor, wir können jetzt wieder das Fernsehen Sarajevo empfangen. Die Nachrichten, aber auch Filme, das ist schon ein bißchen Normalität“, erklärt der Sohn. Der Vater dämpft den Optimismus. Obwohl die UNO geholfen habe, das Kraftwerk Kakanj wieder in Gang zu setzen, sei Sarajevo nach wie vor im Griff der Gegner, erklärt er. Die könnten nämlich die Stromzufuhr jederzeit wieder unterbrechen. Kaum sei vor vier Wochen das Abkommen mit Karadžić und Boban bezüglich der Stromlieferungen von Kakanj nach Sarajevo getroffen worden, habe Karadžić das Kraftwerk in Tuzla mit Luna-Raketen angreifen lassen und es schwer beschädigt. „Sie haben uns bei den Lebensmitteln wie auch bei Strom und Gas weiterhin im Griff“, bekräftigt Herr Alicehajić. Und er reicht seine Hand zum Abschied.