Welche Zeit war seine Zeit?

■ Heute vor 100 Jahren wurde Erwin Piscator geboren - Mehrere Veranstaltungen erinnern an den Theatermacher, der sein Leben lang ans politische Theater glaubte

Als Erwin Piscator 1951 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte, hatte er ein schweres Erbe anzutreten – sein eigenes. Als Vater des Zeittheaters, des linkspolitischen Theaters, des dokumentarischen Theaters, des multimedialen Theaters in deutscher Sprache war er vor den Nazis erst nach Rußland, dann über Paris nach Amerika geflohen. Als er zurückkam, waren die Pfründe in Berlin schon verteilt. Brecht verwaltete seine Adaption des epischen Theaters erfolgreich in Ost- Berlin, im Westen erteilte Boleslaw Barlog erst an seinem Schloßpark- und dann auch am Schillertheater Nachhilfeunterricht in Sachen Weltdramatik. Die Freie Volksbühne dümpelte auf ähnlichem Fahrwasser vor sich hin.

Deutschsprachige Gegenwartsdramatik kam außer von Brecht nur aus der Schweiz, mit den Parabelstücken von Frisch und Dürrenmatt. Erst in den sechziger Jahren meldete sich eine junge Generation deutscher Stückeschreiber mit einem politischen Anliegen zu Wort – und mit einer Form, die dem Publikum keine Ausflucht lassen sollte: dem dokumentarischen Theater. Die konfrontative Kraft des Faktischen verwendete als erster Rolf Hochhuth in seinem Drama „Der Stellvertreter“, in dem er dem Papst Pius XII. vorwarf, weniger als möglich gegen die nationalsozialistischen Greueltaten unternommen zu haben. Peter Weiß und Heinar Kipphardt folgten auf diesem Weg und mit den Themen Politik und Moral noch konsequenter. Da war auch Erwin Piscators Zeit wieder gekommen.

Jahrelang hatte er an kleineren westdeutschen Städten inszeniert, in Marburg, Gießen, Mannheim, Tübingen, gelegentlich auch – ohne größeren Erfolg – bei Barlog in Berlin. 1962 wird er dann vom Vorstand der Freien Volksbühne zum künstlerischen Leiter gewählt. So kam er an ein Haus zurück, aus dessen Vorkriegsvariante (die Volksbühne spaltete sich nach 1945 in die Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz und die Freie Volksbühne im Westen Berlins) er 35 Jahre zuvor aus Gründen politischer Einseitigkeit rausgeschmissen worden war. Man erhoffte sich mit dem damals immerhin fast Siebzigjährigen ein Profil als Zeittheater. Piscator brachte 1963 den „Stellvertreter“ zur Uraufführung, 1964 Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“, 1965 Weiss' „Ermittlung“. Theater wurde politisch, konfrontierte mit verdrängter Geschichte – und kam an die Grenzen seiner ästhetischen Möglichkeiten. Originaltexte, auf dem Theater verlautbart, bleiben immer Theatertexte. Theater contra Wirklichkeit. Die Debatte um die Vergangenheit verschob sich zu einer Debatte über die Ästhetik. Politisches Zeigefingertheater hat seine wichtige Funktion als Ausrufezeichen, eine eigene Grammatik entsteht daraus nicht. Aber diesen Umbruch hat Piscator mit vorangetrieben, mit allen seinen Brechungs-Mitteln der direkten Ansprache des Publikums, der Filmeinblendungen etc.

Anfang 1966 inszenierte er noch Kirsts „Aufstand der Offiziere“, wenige Monate später starb er. Erwin Piscator, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, war als Regisseur und Theaterleiter nach 1945 nicht mehr sehr innovativ. Seine Leistung war die eines Geburtshelfers der neuen politisch engagierten Dramatik. Friedrich Luft warf Piscator immer und immer wieder vor, sich nur selbst zu zitieren und zu ignorieren, daß das Fernsehen mit Dokumentarspielen heute viel mehr erreichen könne als ein sich dokumentarisch gerierendes Theater. Als Authentizitätsmedium ist das Fernsehen 1993 eher eine Lachnummer. Welche Möglichkeiten gibt es heute, mit Mitteln der Kunst, politisches Bewußtsein zu wecken? Nur wer darauf eine Antwort weiß, kann Erwin Piscator und seine lebenslange Bemühung darum für überwunden erklären. Petra Kohse

Heute um 20 Uhr werden im Clubraum der Akademie der Künste (Hanseatenweg, Tiergarten) Texte von Piscator gelesen und Original- Tondokumente vorgespielt. Am Samstag um 23 Uhr wird im Roten Salon der Volksbühne (Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte) ein Streitgespräch zwischen Piscator und Joseph Goebbels über nationale und internationale Kunst, das die beiden 1930 im Berliner Rundfunk führten, gelesen. Auch eine kleine Piscator-Ausstellung ist seit Mittwoch in der Volksbühne zu besichtigen.

Pünktlich zum Geburtstag ist im Jonas-Verlag ein Piscator-Erinnerungs-Sammelband erschienen mit dem Titel „Leben ist immer ein Anfang!“ (192 S., 45 Abb., 28 DM). Herausgeber ist Ullrich Amlung. Diesem Buch ist auch die Szenenfoto-Collage von Sasha Stone entnommen, die verschiedene Ansichten von „Rasputin, die Romanovs, der Krieg und das Volk“ von Tolstoi und Schtschegolew zeigt, eine Inszenierung Piscators in seinem Theater am Nollendorfplatz, die am 10.11.1927 Premiere hatte.