Die Lehrstellenkrise kommt

■ Am schwersten wird es 1994/95, einen Ausbildungsplatz zu finden, meint der Schulstaatssekretär Günter Bock / 400 freie Lehrstellen für Westberliner unerreichbar

taz: Herr Bock, wohin sind Ihrer Ansicht nach die Jugendlichen verschwunden, die sich noch im August zu Hunderten um Lehrstellen beworben haben?

Günter Bock: Also überwiegend in Lehrstellen. Verschiedene Initiativen der IHK, der Gewerkschaften und des Schulsenators haben dazu geführt, daß bis Ende des Jahres fast jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommen wird.

Wie viele werden's denn sein, die keinen bekommen – Ihrer Schätzung nach?

Endabgerechnet wird erst Ende Januar 94. Die Zwischenzahlen sind, daß wir einige wenige über 100 Unversorgte im ehemaligen Ostteil unserer Stadt haben und daß wir schätzungsweise 750 Jugendliche in ehemals Westberlin haben.

Es gibt Experten, die sagen, die Jugendlichen seien regelrecht vom Lehrstellenmarkt vertrieben worden.

Also „vertrieben“ ist ein zu harter Ausdruck dafür, weil es eine freie Entscheidung ist, der man nachkommt. Möglicherweise ist damit gemeint, daß aufgrund der öffentlichen Diskussion, aufgrund von Enttäuschungen, bei zehn Bewerbungen zehn Absagen bekommen zu haben, die Eigeninitiative etwas gemindert worden ist. Richtig ist, daß die schulischen Angebote, die es um die betriebliche Ausbildung herum gibt, natürlich etwas bequemer sind als das, was man gelegentlich von betrieblicher Ausbildung hört.

Einigkeit besteht darüber, daß die Jahrgänge 92 und 93 in die größte Lehrstellenkrise seit den Siebzigern geraten sind. Es droht der Gesellschaft eine Welle junger Ungelernter – was tut Ihre Behörde in Berlin dagegen?

Also diese Auffassung teile ich nicht. Ich habe zum Beispiel am Wochenende eine Anzeige in der Zeitung gelesen: „Zwei Ausbildungsstellen für Tischler angeboten“ – in großen Lettern. Ich weiß, daß es im Einzelhandel, bei Fleischer, bei Bäcker/Konditor Ausbildungsplätze gibt, die wegen mangelnder Nachfrage nicht besetzt werden können. Ich weiß, daß das anstrengende Bereiche sind. Ich weiß auch, daß nicht jeder Jugendliche den Ausbildungsplatz seines Wunsches bekommen hat. Dennoch: Eine Ausbildungsplatzkatastrophe ist es nicht. Meine Befürchtungen gehen eher auf das Jahr 94/95. Beispielsweise ist ein ganzer Ostabiturjahrgang im Zeitraum 93/94, nicht auf den Markt gekommen.

Was tut Ihre Behörde konkret?

Als erstes für die Ausbildung ist in der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Wirtschaft zuständig, zweitens die deutsche Wirtschaft und drittens die deutsche Wirtschaft. Wenn sie aus besonderen Gründen diese Aufgabe von der Mengenproblematik her nicht schafft, dann hat Staat die Verpflichtung einzugreifen – für die Beteiligten mit schulischem, körperlichem, sprachlichem, geschlechtsspezifischem Handicap Ersatz zu schaffen; und dann hat Staat Wirtschaft aufzufordern, neue Ausbildungsplätze zu schaffen.

Wann wird nun endlich die Gemeinschaftsinitiative Lehrstellen Ost auch für Jugendliche aus dem Westen der Stadt geöffnet?

Das ist nicht eine Frage, die wir entscheiden können, sondern die das Bundeskabinett entschieden hat. Die Bundesanstalt für Arbeit und wir, das Land Berlin, haben gemeinsam die Problemlage der Stadt beschrieben und den Bund aufgefordert, dafür zu sorgen, daß es im Westen nicht zu einer neuen Inselproblematik kommt. Der Bund hat aber anders entschieden.

Ist das eine Zeitfrage? Oder steht es überhaupt auf der Kippe?

Es steht überhaupt auf der Kippe. Den Eindruck habe ich.

Wird es dann nicht Zeit, daß Sie Herrn Pieroth sagen, er soll das Geld vorstrecken – wenn's denn um Geld geht –, damit die 750 unversorgten Westler auch noch eine Lehrstelle bekommen?

Das ist keine Frage von Geld, auch keine von Kompetenzen: das ist eine Frage von Rechtsgrundsätzen.

Gelten Rechtsgrundsätze höher, als 750 arbeitslose Jugendliche von der Straße zu holen?

Nein. So viel dürfen wir nicht anrechnen, weil es nur noch um die Restsumme der Plätze in der Gemeinschaftsinitiative geht, also 810 weniger 370. Das ist eine Frage der Rechtsargumentation. Der Bund meint, es gäbe keine Rechtsgrundlage, die Ausdehnung der Gemeinschaftsinitiative Ost aus dem Bundesanteil zu finanzieren. Ich sehe das nicht ein. Der Bund hat ja die grundsätzliche Entscheidung getroffen, daß Berlin zu den neuen Bundesländern gehört.

Kommen wir zu einem Berliner Thema, die Vollzeitlehrgänge 11. Klasse (VZ 11), in denen SchulabgängerInnen – statt eine Lehre zu machen – zunächst ihren Abschluß berufsbezogen aufwerten können. Ihre Behörde, Sie, haben sich an dem Pokerspiel um die Lehrstellen beteiligt, indem Sie über ein halbes Jahr hinweg den Zugang zu diesen Vollzeitlehrgängen verschleppt haben.

Ihre Feststellung teile ich nicht, und sie ist auch falsch. Wir haben im Schulgesetz des Landes Berlin bestimmte Verpflichtungen, etwa die Schulpflicht in der 11. Klasse, die im Lauf der Zeit nicht mehr sinnvoll ist. Insofern versucht dieses Haus, die Schulpflicht für VZ11 nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Das löst doch aber das Problem der jungen Leute ohne Job nicht.

Doch, das löst es sogar in einem hohen Maße. Es ist nicht richtig für Jugendliche, daß sie – obwohl sie einen Ausbildungsplatz kriegen könnten – in schulischen, nicht sehr effektiven, Geld kostenden Einrichtungen betreut und – verzeihen sie die saloppe Formulierung – warmgehalten werden. Und dann zeitlich verzögert im nächsten Jahr als Bugwelle auf den Ausbildungsmarkt drängen.

Die Abschaffung der Schulpflicht bringt aber doch keine neuen Ausbildungsplätze. Das heißt, wir brauchen auch in diesem Sektor Möglichkeiten für Jugendliche mit Realschulabschluß, etwa Berufsfachschulplätze.

Nein, das glaube ich eben nicht. Vollzeitschulische Ausbildungen sind weniger praxisorientiert als das, was Jugendliche für ihr weiteres Leben brauchen. Ich bin nicht der Auffassung, daß wir eine Ausdehnung der vollzeitschulischen Ausbildung brauchen. Das ist eher eine Frage, daß wir die Zahl der Ausbildungsplätze anregen müssen – daß sie erhöht werden, und zwar von denen, die für die Ausbildung zuständig sind: der Wirtschaft – die sie ja später als Facharbeiter braucht. Interview: Christian Füller