Zwischen den Rillen
: Am Ende alles eine Frage der Zeit

■ Bach, von Kennern verschlankt und tiefergelegt: Die Sonaten für Violine und Cembalo

Musik ist eine Kunst, die in der Zeit stattfindet – typischer Fall einer Binsenweisheit. Was aber ist die Zeit? Die nächste Binsenwahrheit: was sich weder festhalten noch definieren läßt. Die Zeit, wir nähern uns dem dritten Gemeinplatz, kennt drei Zustände: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — was im Falle der hier thematisierten Darbietung heißen will: Eine Musik der Vergangenheit wirkt in der Gegenwart, um die Zukunft vergessen zu machen.

Doch Vorsicht, keine Verwechslung, dies ist keine Musik, die die Zeit aufheben will – solche ist meist in gleichem Maße unerträglich wie der Zustand unvorstellbar –, sondern eine, die den flüchtigen Augenblick belebt; nicht, um ihn festzuhalten, sondern um ihn in einen Fluß gefühlter Zustände zu binden.

Das war jetzt ein bißchen viel Philosophie; aber die Musik Bachs ist oft genug bis zur Unkenntlichkeit totgespielt, verstümmelt, leichengefleddert worden, als daß sich länger noch behaupten ließe, sie sei unsterblich.

Sie ist nur ungewöhnlich vital und unter den Händen von Könnern, die, nicht überflüssig anzumerken, zugleich Kenner (und Liebhaber!) sein müssen, schwingt sie sich mit Phoenix- Kraft aus der Notenasche empor, Zauberhauch verbreitend, um die Gemüter aller Lauschenden zu ergreifen.

Aber, verlassen wir den Nebel der Schwärmerei, um zu den Fakten zu gelangen. Sigiswald Kuijken hat sich nicht erst einen Namen gemacht, als er und seine Brüder mit „La Petite Bande“ neuen Wind in die alte Musik brachte. Bereits seit 1966, als Bach noch mit gigantischem Orchesterapparat zum Romantiker gedopt, seine Kammermusiksachen dagegen zur Sparte kurzweiliger Fingerübungen gerechnet wurden, hat er bereits an einem neuen alten Stil gefeilt. Erst einmal die Violine abgerüstet: Saiten tiefer gelegt (den Manta- Fahrern sei's gesagt: Das bedeutet nicht mehr Klangpower, sondern weniger, dafür aber ein reichhaltigeres Klangspektrum), Darm statt Stahl, Stimmstock und Baßbalken leichter, Bogen verkürzt. Dann den Bogen anders gehalten, weniger Druck, mehr Beweglichkeit. Dann, vor allem — einem schlanken, genauen Ton zuliebe — aufgehört mit dem ewig wimmernden Vibrato, um es wieder als Effekt zielgenau einsetzen zu können: zur Bereicherung der artikulatorischen Palette. So entrinnt man den Maximen des Brillanter, Schneller, Lauter.

Gustav Leonhardt ist der Grandseigneur der anreißenden Tasteninstrumente; bei ihm klingt ein Cembalo einmal nicht wie ein „Sie konnten's halt nicht besser bauen“-Klavier. Seine, ja, wie sagt man's, „aristokratische“ Gelassenheit, jedem hurtigen Wieseln abhold, ist die conditio sine qua non, um die Bachschen Duette von der ewig dräuenden Zukunft zu befreien (in die ja, wie uns mittlerweile oft genug versichert wurde, alles in zunehmender Beschleunigung hineinstrudelt). Indem er uns jede Virtuosität verweigert, ja selbst Bachen sein „Presto“, sein „Vivace“ nicht zugesteht, öffnet er das Tor zum Leonhardtschen Zeitgefühl – nicht ganz von dieser Welt, will es scheinen.

Und dennoch ist ein Drängen in seinem Spiel, nur eben von einem zum nächsten Ton und nicht zur abschließenden Kadenz; kein rasches Geschüttel zum schnellen Höhepunkt, aber auch kein lay back and snooze (das vom Publikum so gerne zum seelenvollen Adagio verklärt wird). Da ist Leonhardt einfach ein zu gewiefter Liebhaber.

So, und jetzt die beiden zusammen. Das muß man hören, wie zum Beispiel die Sonata f- moll (BWV 1018) vom Cembalo eröffnet wird. Das ist eine Erzählung, die mit drei, vier Worten eine Begebenheit behauptet und durch Sequenzierung vorsichtig bekräftigt. Mit einem aus weiter Erinnerung kommenden langen Seufzer gesellt sich die Violine hinzu, stellt in Frage, was sie aus eigenem Erleben anders weiß, unterbricht aber die Ausführungen der geliebten Seele nicht, spricht nur ihre Version mit, gibt zu bedenken, rückt zurecht. Also kein altes Ehepaar, das seine gemeinsame Erinnerung in abgestimmter Fassung dahernuschelt, sondern ein Modellfall der Konversation zweier Liebenden, voller Zartheit, Nachsicht, Würde, Anmut, Wärme – eine Wahlverwandtschaft ...

Oh, da sind wir wieder ins Schwärmen geraten. Aber ein Wunder ist das nicht. Frank Hilberg

Sigiswald Kuijken, Gustav Leonhardt: „Johann Sebastian Bach, Sonaten für Violine und Cembalo“ (Deutsche Harmonia Mundi; gd 77170)