Flucht in historische Vergleiche

■ betr.: „Erinnern für die Zukunft“, taz vom 1.12.93

[...] Es wird zwar selten eine großangelegte Militärintervention in Ex-Jugoslawien gefordert. Dann müßte man sich ja auch konkreter äußern, wer denn mit welchen Kriegszielen, mit welchen kalkulierten Kriegsopfern, mit welchen unkalkulierbaren Risiken „Bosnien helfen“ soll. Darüber ließe sich aber immerhin noch sinnvoll streiten.

Statt dessen wird die Flucht in historische Vergleiche angetreten. Analog zu Heiner Geißler, der schon vor zehn Jahren aufgedeckt hat, daß „die Friedensbewegung Auschwitz erst möglich gemacht hat“, wird die „Appeasement-Politik“ des Münchner Abkommens 1938 für Auschwitz, die Shoa, den Holocaust verantwortlich gemacht. Die Alliierten der Anti- Hitler-Koalition hätten den Völkermord an den Juden ignoriert. Damals wie heute hätte „die Welt das Drama (des Völkermordes) nicht wahrhaben wollen“. Süffisant wird bemerkt, daß „noch im Mai 1943 in England von sorgenden Händen Päckchen fürs Warschauer Ghetto gepackt wurden, Wochen, nachdem das Ghetto von den Nazis bereits endgültig vernichtet worden war“.

Es gehört schon ein gerütteltes Maß an historischer Ignoranz dazu, die britische Politik des Jahres 1943 ausschließlich als „Päckchen packen“ zu beschreiben, nachdem Großbritannien 1939 immerhin in einen Weltkrieg gegen Deutschland eingetreten war, der ab 1942 – von Goebbels ausgerufen – als „totaler Krieg“ geführt wurde. Es ist mehr als peinlich, wenn den Alliierten eine Verantwortung für den Holocaust zugeschanzt wird, obwohl diese den deutschen Verbrechern den Krieg schon erklärt hatten, noch bevor die faschistischen Deutschen „die Endlösung der Judenfrage“ beschlossen hatten, noch bevor die fabrikmäßigen Vernichtungslager gebaut worden waren. (Ob eine frühere Kriegserklärung schon im Jahre 1938 bei der Besetzung der „Tschechei“ den Weltkrieg und den Holocaust verhindert hätte, ist mehr als zweifelhaft.)

So sehr wir die militärische Befreiung Europas von den faschistischen Deutschen begrüßen, so sehr muß leider als historische Wahrheit anerkannt werden, daß ein Weltkrieg, der den Siegern zig Millionen Kriegsopfer „kostete“, den Holocaust zwar beendet, aber nicht verhindert hat. Den hätten nur die Deutschen selbst verhindern können. Deshalb verbleibt die Verantwortung bei den deutschen Verbrechern und nicht bei einer fiktiven „Weltgemeinschaft“. Carola Vogt, Berlin