Der Kanzler rät: Warten Sie's doch ab!

■ Kohls 93er Bilanz: Alles prima und zu Stoiber kein Kommentar

Bonn (taz) – Jahresbilanzen von Regierungschefs sind selten spannend, aber seinem Rückblick auf das Jahr 1993 hat ein lustlos wirkender Bundeskanzler Kohl gestern mit einem leiernden Vortragsstil die letzte Überzeugungskraft genommen. Natürlich war es eine Erfolgsbilanz, die der Kanzler vor der Presse in Bonn präsentierte – unter anderem mit den Stichworten Standortsicherung, Renten im Osten, Bahnreform und Asylgesetz. Der Ausblick auf das kommende Jahr aber streifte keines der vielen Konfliktfelder im Kabinett. Ein ums andere Mal empfahl der in der Wählergunst weit hinten liegende Kanzler den nachfragenden Journalisten eine Haltung, die er selbst gerne praktiziert: „Warten Sie's doch ab!“

Zentralen Stellenwert im Arbeitsprogramm der Regierung fürs kommende Jahr nimmt laut Kohl wieder die Europapolitik ein. Im zweiten Halbjahr 1994 übernimmt Deutschland die Präsidentschaft der Europäischen Union. Wie aber wird im kommenden Juni der bayerische Wahlkampf eines Edmund Stoiber wirken, der den Vorsitzenden der Schwesterpartei und Chef der gemeinsam getragenen Bundesregierung von Brüssel aus gerade als „europäischen Illusionisten“ schmähte? Kohl weigerte sich auch gestern, auf diesen Affront öffentlich zu reagieren: „Ich habe keinen Grund, das zu kommentieren, meine Position ist bekannt.“ Einen bayerischen Wahlkampf gegen Bonn werde es nicht geben.

Keine konkreten Aussagen gab es auch zum Thema Bundespräsidentenkandidat, das die Koalitionspartner FDP und CDU/CSU seit Wochen entzweit. Daß die Union unter Zeitdruck stehe, stritt Kohl schlicht ab. Nach den Gesprächen mit der FDP werde ein „geeigneter Kandidat“ zum „geeigneten Zeitpunkt“ präsentiert. Er sei überzeugt, daß „wir eine Persönlichkeit aus der CDU/CSU vorschlagen werden, die großen Anklang findet“. Ohne Namen zu nennen, machte Kohl deutlich, daß er dabei an den Verfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog denkt. Kohl bestritt in diesem Zusammenhang, daß er gegenüber dem SPD-Politiker Wischnewski jemals Johannes Rau als gemeinsamen Kandidaten genannt habe.

Wer nicht glauben will, daß diese Regierung bei „normalen Leuten“ (Kohl) gut ankommt, den will der Regierungschef durch Augenschein eines Besseren belehren: Ohne Kameras, ohne eilends herbeigeschafftes Protestpotential reagieren die Menschen angeblich ganz anders auf den Kanzler. Ein Fernsehjournalist darf sich davon nun überzeugen: Kohl lud ihn zum Mitflug im Kanzler-Hubschrauber ein – den Ort der Landung darf der Pressemann angeblich selbst bestimmen. Hans Monath