Stille Nacht für Neue Musik

Wörtlich sollte man Schönbergs Satz, man solle so oft wie möglich Neue Musik hören, nun nicht nehmen; einen Abend mit Violinmusik rein quantitativ zur Nacht werden zu lassen, garantiert den dialektischen Sprung zum qualitativen Verständnis Neuer Musik noch lange nicht: acht rund zwanzigminütige Stücke aus den letzten 40 Jahren erscheinen gerade dem als Zumutung, der als Kritiker diese Werke dem Leser auf 80 Zeilen zu vermitteln hat. Und es ist ja nicht damit getan, zu schreiben, daß die jungen Geigerinnen und Geiger Jahn, Biederbick, Nussbaumer, Mayer, Thiessen, Roscher, Hammann und besonders Norioko Sugiyama am Flügel eine neue Generation von Musikern versprechen, die endlich Neuer Musik ohne Starrheit des Ungewohnten begegnen. Und niemanden ist geholfen, die Kompositionen von Alfred Schnittke, Karlheinz Stockhausen, Nobert Linke, Witold Lutoslawski, Krysztof Penderecki und Isang Yun mit Stichwörtern des zufälligen Ge- oder Mißfallens zu beschreiben. Eine Kategorie wie „Dynamik“ würde hier nur dem was sagen, der grundsätzlich eine Vorstellung von Neuer Musik hat; ansonsten wäre sie für Mahler, NWA oder Henry Rollins genauso treffend. Es geht schließlich nicht nur darum, die ästhetische Stimmigkeit zu erklären, sondern auch den Vermittlungszusammenhang zwischen Gesellschaft und Musik freizulegen, nämlich der Frage zu begegnen, welche soziale Notwendigkeit sich in den Werken der Neuen Musik versteckt und ob diese sich kompositorisch adäquat ausdrückt.

Schnittkes „Stille Nacht für Violine und Klavier“ bietet sich an, weil das im Titel genannte Weihnachtslied wohl jedem bekannt ist. Wer einmal gehört hat, wie ein Kind mit einer Geige dieses Lied übt, gewinnt eine Vorstellung vom Beginn dieses Stücks; sehr eng orientiert sich Schnittke am vorgegebenen Material und ändert zumeist nur die Schlußsequenzen der Melodie. Damit hat die Komposition sowohl etwas vom Zwang der musikalischen Früherziehung eingefangen wie auch eine gewisse Heiterkeit, wenn das „falsch“ gespielte Lied doch richtig ist. Heiter bleibt auch das volksmusikalische Triolen-Zupfen der Geige im Verlauf des Stückes; doch wieder wird es vom Kontrast gebrochen: das Klavier setzt mit langen, tiefen Tönen ein, die zur Anklage der Heuchelei werden, mit der wir heute friedliche Weihnachten feiern, während anderswo Krieg ist. Und nicht länger ist die Stille Nacht Sinnbild der Geburt des Heilands, sondern verheißt das Gegenteil. Roger Behrens