Die Distanz zum Leben draußen

■ In einem Haus irgendwo in Hamburg suchen Frauen ihren Weg aus der Drogensucht   Von Gaby Werner

Es ist noch früh am Morgen. In dem gelb geklinkerten Einzelhaus, irgendwo in Hamburg, sind die Fenster weit geöffnet. Beate (*) feudelt das Badezimmer, in der Küche werkelt Nadine.

Ein großes, gemütliches Wohnzimmer mit Blick in den Garten: Grillplatz, ein verirrter Gartenzwerg. „Keep holding on“, tönt die wehmütige Stimme von Simply Red aus den Boxen. Michaela leert Aschenbecher und steckt neue Kerzen in die Leuchter: Tagesbeginn in der therapeutischen Frauenwohngemeinschaft des Vereins „Frauenperspektiven“.

Sechs Frauen zwischen zwanzig und dreißig machen hier Drogentherapie. Den körperlichen Entzug haben sie hinter sich, nun geht es um die sozialtherapeutische Betreuung. Viele der Frauen waren schon in gemischten Therapien, viele sind rückfällig geworden. Das Haus mit acht Plätzen besteht seit sechs Jahren. Es ist die einzige Einrichtung nur für Frauen in Hamburg, eine von sechs in Deutschland. „Wir haben Bewerberinnen aus allen Bundesländern“, erklärt Anita Müller, eine von fünf Mitarbeiterinnen, „die Wartezeit beträgt bis zu einem halben Jahr.“

Gruppenbesprechung. Nadine läßt sich aufs Sofa fallen, Beate balanciert auf der Lehne, Carola ist mit Block und Kugelschreiber bewaffnet. Michaela ist erst seit sechs Wochen hier. Wie viele Frauen kommt sie nicht aus Hamburg. „Du mußt deine lBewährungshelferin anrufen und klarmachen, wie oft du dich melden sollst“, rät Anita Müller. In drei Wochen hat Michaela eine Verhandlung wegen Drogenbesitzes im Ruhrgebiet. „Erkundige dich, ob du das Fahrgeld ersetzt kriegst.“

Seit zwölf Jahren können nach dem Betäubungsmittelgesetz Verurteilte eine Therapie in einer staatlich anerkannten Einrichtung machen. „Frauenperspektiven“ ge-hört nicht dazu, weil die Mitarbeiterinnen keine Auskünfte und Prognosen über die Frauen weiterleiten. Treffen diese aber selbst eine Regelung mit der Justiz, können sie trotzdem hierher kommen.

„Ich hab' tierische Angst, keine Verlängerung der Therapie zu kriegen“

„Beate, hast du angerufen, ob deine Therapie verlängert wird?“, erkundigt sich Anita. Beate schaukelt auf der Sessellehne, dreht nervös an einer Haarsträhne: „Nee, ich hab tierische Angst vor dem Schock, daß ich nur vier Wochen kriege und bald wieder auf der Straße stehe.“ „Letzte Woche hast du noch gesagt, du hältst die Unsicherheit nicht aus. Deine Taktik, den Kopf unter die Bettdecke zu stecken, bringt doch nichts.“ Anita versucht, ihr Mut zu machen: „Jetzt kannst du noch Widerspruch einlegen.“ Beate denkt nach: „Gut, du rufst an, und ich hör mit.“

Seitdem die Therapiezeit von 18 auf 12 Monate gekürzt wurde, ist der Druck für die Frauen noch größer geworden: Sie müssen in einem Jahr ihre Lebensgeschichte aufarbeiten, sich beruflich neu orientieren, neue Kontakte finden. Die Sozialbehörde finanziert zwar die Kosten einer ambulanten Nachbetreuung und ein Dach über dem Kopf. Doch das bedeutet oft eine isolierte Wohnung in einem sozialen Ghetto, schlimmstenfalls ein Zimmer auf St. Pauli oder in St. Georg, mitten in der Drogenszene.

Michaela hat schon eine abgebrochene Therapie hinter sich. „Warst du mal in einer gemischten?“, fragt sie. Allein schon das Aufnahmegespräch: „An einer Wand saßen fünfzehn Männer. Haben mich total angegriffen, um meine Motivation zu testen.“ Auch Sandra hat schlechte Erfahrungen gemacht: „Wir waren 80 Männer und 5 Frauen. Das Verhältnis unter den Frauen war grausam, nur Eifersucht und Konkurrenz. Geredet haben wir so gut wie nie. Unter den Männern gab es ein Drama um die wenigen Frauen. Ich hab mir ziemlich bald eine Beziehung gesucht. Vorher hatte ich Bulimie, durch den Entzug wurde ich fett. Ich wollte wieder schlank werden, hab wieder Heroin genommen.“

Es ist still. Die Kerzen flackern leicht im Luftzug. Nach einer Weile sagt Beate leise: „Wie hätte ich denn über meine Gewalterfahrungen mit Männern reden können? Daß mich die Typen auf der Szene total unterdrückt haben?“ Sie guckt zu Boden. Nach einer Pause: „Ich bin auch mißbraucht worden, habe mich immer schuldig gefühlt. Erst hier habe ich gemerkt, daß das nicht stimmt.“ Leise fügt sie hinzu: „Mit Typen wäre mir das nicht passiert, daß ich Schwäche zeige.“ Sandra nickt: „Unter Männern hatte ich das Gefühl, stark sein zu müssen. Wie hätte ich da übers Anschaffen reden können?“

„Hier kannst du ruhig was Schräges erzählen, dachte ich“

In der Frauenwohngemeinschaft gibt es keine Hierarchie, alle Frauen haben die gleichen Pflichten und Rechte, egal wie lange sie hier sind. Sandra schildert ihre Ankunft: „Alles lief ab wie ein Film. Mein Drogenberater hat mich direkt aus dem Entzug abgeholt und hierher gebracht. Im Wohnzimmer war die Aufnahmerunde. Ich bin gleich von allen so angestrahlt worden. 'Hier kannst du ruhig was Schräges erzählen', dachte ich. Dann kam der Wochenplan: Kochen, Hausarbeiten, Gesprächsrunden. Und am Anfang die Kontaktsperre. Da habe ich doch geschluckt“, lacht sie. Diese drastische Maßnahme gehört zum Konzept. Für die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte ist es wichtig, eine zeitlang Distanz zum Leben „draußen“ zu haben. Die Wiederaufnahme von Kontakten wird in Gruppensitzungen besprochen.

Beate und Nadine gehen in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Kartoffeln mit Quark soll es geben. Beate hebt entnervt den Deckel vom Topf. „Pellkartoffeln für acht Personen brauchen eine Ewigkeit.“ Nadine lästert: „Du brauchst sie ja nicht mit zehn Liter Wasser aufzusetzen.“

Die anderen Frauen haben inzwischen telefoniert. Michaela ist den Tränen nahe. „Ich kriege die Fahrtkosten nach Essen nicht erstattet.“ Schließlich sei sie ja angeklagt, war die barsche Antwort der Bewährungshelferin. „Wovon soll ich das denn bezahlen, bei 150 Mark Taschengeld im Monat?“ Für Beate gibt es eine gute Nachricht. „Du bekommst Therapieverlängerung bis Mai“, verkündet Anita strahlend. Beate ist verwirrt: „So lange?“ Dann fällt sie Nadine in die Arme und drückt sie glücklich an sich.

In warmer Jacke und Stiefeln kommt Sandra die Treppe herunter. Ein letzter Blick in den Spiegel, fertig. Für einen Gang über die Drogenszene am Hauptbahnhof. Zwei Therapien hat sie abgebrochen. Jetzt will sie sehen, ob sie zu sich stehen kann. Anschließend wird sie sich mit einer Betreuerin treffen. Sandra ist am längsten in der WG und bereitet sich langsam auf das Leben „draußen“ vor: Sie macht eine Umschulung zur Steuerfachgehilfin.

„Ich stelle mir vor, das war die Abschlußrunde, und ich gehe jetzt“, sagt sie beim Hinausgehen. „Abschlußrunde“: Das bedeutet Ende der Therapie. Beate heult fast. Die anderen sind bedrückt. Nicht nur Angst um Sandra, sondern der Gedanke: 'Wie würde ich reagieren?', beschäftigt die Frauen. „Sie kommt doch wieder“, tröstet Anita. „Trotzdem.“ Beate rennt in die Küche und dreht das Radio voll auf.

Gruppensitzung am Nachmittag, das Thema: „Verdrängung von Gefühlen“. Nadine lächelt. Sie hat kurze blonde Haare, im Nacken ausrasiert. Eine Strähne fällt ins Gesicht. Fünf Ringe am rechten Ohr, Flickenjeans. „Die anderen haben mir gesagt, daß ich in letzter Zeit manchmal so traurig aussah. Ich habe es gar nicht gemerkt. Erst später ist mir eingefallen: Das war, als ich an meine Eltern dachte, an die Situation zu Hause. Das Schweigen am Tisch, die Streitereien.“

Sie ist immer das liebe, brave Mädchen gewesen, das Konflikten aus dem Weg ging: „Bei uns galt immer die Meinung meines Vaters. Er wollte nicht, daß ich Fachabitur mache. Ich habe dann im Geschäft meiner Eltern gearbeitet.“ Für ihren Vater zählte nur Leistung, nicht Gefühle. Ebenso wie für ihren Freund: „War ich mal nicht seiner Meinung, hat er mich auch geschlagen.“.

„Jetzt brauchst du neue Themen. Früher drehte sich alles um Stoff“

Auf der Drogenszene hat sie sich anerkannt gefühlt. Deswegen kommt ihr diese Zeit manchmal so schön vor. Aber erst hier in der Frauen-WG hat sie gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen: „Deshalb habe ich mir auch meine langen blonden Haare abschneiden lassen.“ Michaela nickt. „Das war so spannend in der Szene. Man hat immer ein Ziel. Du bist ja den ganzen Tag beschäftigt, das Geld und den Stoff zu besorgen.“

Anita Müller kennt die Schwierigkeiten. Eine Therapie verläuft nie gradlinig. Immer wieder muß die Entscheidung für ein cleanes Leben neu getroffen werden. In der Erinnerung verblassen oft die negativen Erfahrungen der Drogenzeit. Das „Draufsein“, die Szene werden verklärt. Der Alltag in der Therapie erscheint da oft grau und langweilig. Auch auf Leute zuzugehen, ist ganz anders: „Man ist nicht so cool“, sagt Carola. „Und man braucht neue Themen. Früher drehte sich alles um den Stoff.“

Die immer wiederkehrende Frage: Sage ich etwas von meiner Vergangenheit, von der Therapie? Beate erzählt von der Reaktion ihrer Krankengymnastin: „Sie war richtig sensationslüstern, hat mich total ausgefragt. Ich merkte so richtig das Klischee: 'Drogen, total fertig, ganz unten'. Dabei habe ich Fachabi!“ Und dann: „Ich zählte nicht mehr als Mensch. Das ist genauso schlimm wie Ablehnung.“

Am Abend kommt Sandra zurück. Alle sehen sie erwartungsvoll an. „Mir geht es tierisch gut.“ Sie ist ein bißchen erschöpft, zieht die Jacke aus. „Ich habe ein paar Bekannte getroffen. Ich fand die Leute ganz lebendig, nicht so kaputt wie in Altona. Meine Güte, hab ich damals auch so ausgesehen? Ich kam mir so gesund vor. Um uns ist immer einer rumgelaufen: 'Hasch, Hasch'. Hat mir aber nichts ausgemacht.“

Abendbrot. Schweigend werden Gurkenglas und Käseteller hin und her geschoben. Die Atmosphäre ist gespannt. Beate und Nadine sehen sich an, kichern. Dann prustet Michaela los, verschluckt sich. „Können wir mitlachen?“, fragt Anita. Michaela schüttelt den Kopf. Sie hört nicht auf zu kichern. „Du scheinst ja ganz schön unter Druck zu stehen, Michaela.“ „Nein, es ist wirklich nichts.“ Zigaretten werden angezündet, Beate räumt ab. „Was ist los mit euch?“, fragt Anita nochmal. „Das ist ja fast wie zu Anfang, als ihr euch noch nicht richtig kanntet.“ Schulterzucken. Keine weiß eine Antwort.

Spät am Abend verläßt Anita Müller das Haus. Carola und Michaela bemalen im Keller Seidentücher, Beate und Nadine spielen Tischtennis. „Tschüß bis morgen“. Hinter ihr fällt die Tür ins Schloß.

* Namen geändert