Im Schatten der israelischen Besatzung

■ Ein Palästinenser beschreibt eindringlich und unspektakulär seine Gesellschaft

Kann man ein Buch über Palästinenser schreiben, ohne dabei Kriege und Konferenzen, Organisationen und Regierungen in den Mittelpunkt zu stellen? Ali H. Qleibo hat es versucht, und ihm ist dabei ein kleines literarisches Meisterwerk gelungen. In „Wenn die Berge verschwinden“ steht das Kürzel PLO ganze zwei Mal. Dennoch erfährt man mehr über die Palästinenser und ihren Konflikt mit den Israelis als in so mancher klugen Polit-Studie.

Ali H. Qleibo ist Anthropologe, Hochschuldozent, Maler und vor allen Dingen Palästinenser. Nach dreizehn Jahren im Ausland kehrte er 1987 in seine Geburtsstadt zurück. Bis Anfang 1990 bereiste er seine Heimat, führte Gespräche und Interviews und tauchte tief in die palästinensische Gesellschaft ein. Obwohl Qleibos Recherche vor den Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der PLO in Oslo stattfand und sogar noch vor der irakischen Invasion Kuwaits, ist sein Buch hochaktuell. Es vermittelt eine Idee jenes Verhältnisses zwischen israelischen Besatzern und palästinensischen Unterdrückten, das einen Frieden ein Vierteljahr nach Unterzeichnung des „Gaza- Jericho-Abkommens“ bisher unmöglich macht.

„Der Autor verweigert sich der üblichen Unterscheidung zwischen subjektiver Dichtung und objektiver Dokumentation“, kündigt Qleibo in der Einleitung sein unkonventionelles Vorgehen an. Darauf folgt eine Collage sprachlicher Gemälde, die sich stilistisch zwischen anthropologischer Dokumentation und Tatsachenroman bewegen, ohne sich je festzulegen. In diesem Rahmen analysiert Qleibo gleichermaßen eindringlich die identitätsstiftende Wirkung der Intifada auf die palästinensische Gesellschaft, wie er arabische Tischsitten und die Fülle der in den Nächten des Fastenmonats Ramadan gereichten Speisen beschreibt. Der Autor nennt es „eine persönliche Reise durch den palästinensischen widschdan, den kulturellen und emotionalen Bereich der palästinensischen Gesellschaft“.

Dem Leser gibt Qleibo den Rat, das Buch als „Sammlung von Liebesgeschichten“ zu lesen, wobei das Liebesobjekt seine Heimat sei. Trotz dieser emotionalen Bindung verliert er nicht den Blick für die Realität oder schlittert ins Kitschige. Wahrscheinlich erleichtert ihm der lange Aufenthalt in fremden Kulturkreisen – darunter mehrere Jahre in Japan – den intensiven, warmen, aber nie verdrängenden, beschönigenden oder chauvinistisch-nationalistischen Blick auf „seine“ Palästinenser.

Das Wechselspiel zwischen Hingerissensein und Distanz zeigt sich, wenn Qleibo über die Intifada schreibt. Während er von einem Balkon aus den Straßenkampf mit ungleichen Mitteln zwischen vermummten palästinensischen Jugendlichen und israelischen Soldaten beobachtet, spürt er eine „ansteckende Euphorie“. Die schwarz-weiße Kaffije sei durch ihren Gebrauch als Maske von der Bauerntracht zum nationalen Symbol geworden. Gleichzeitig mache sie den Maskierten jedoch „gesichtslos und anonym“ und löse „vage, bedrohliche Vorstellungen aus“, die „die palästinensische kulturelle Identität“ verfälschten. Qleibo legt Wert auf seine Zugehörigkeit zu einer alten Jerusalemer Aristokratenfamilie. Seinen Lebensstil nennt er „altmodisch“. Das Beharren auf Traditionen teilt er mit weiten Teilen der von ihm beschriebenen Gesellschaft. Dem „revolutionären“ Verhältnis der Palästinenser zur Besatzungsmacht steht ein innergesellschaftlicher Konservativismus gegenüber, an dem sich schon viele palästinensische und ausländische Linke die Zähne ausgebissen haben.

„Im heiligen Land ist jeder Baum, jeder Grashalm, jeder Fels und Kiesel haßverseucht“, schreibt Qleibo, der von sich behauptet, nicht hassen zu können. Er ist mit Israelis befreundet, scheitert jedoch bei dem Versuch, den Wachsoldaten vor dem vom ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Ariel Scharon in Ost-Jerusalem okkupierten Haus auch nur in die Augen zu blicken und so die Besatzer als Menschen wahrzunehmen.

Wie sich der Konflikt mit den Besatzern in die kollektive Psyche der Palästinenser eingebrannt hat, zeigt die von Qleibo beschriebene ethnische und religiöse Zuordnung auch der banalsten Dinge: „Unter israelischer Besatzung haben alle neutralen Dinge eine ethnische Zugehörigkeit angenommen. In den besetzten Gebieten gibt es arabische Autos und jüdische Autos, arabische Milch und jüdische, jüdisches Gebäck und arabisches. In Gaza ist das Mittelmeer arabisch geworden. Wie groß ist für uns der Unterschied zwischen dem Meer von Tel Aviv und dem von Gaza! Hier atmen wir tief und fühlen uns frei. Das Meer ist endlos, unsere Träume stoßen an keine Grenzen. Dort ist das Meer eine blaue Mauer, an der unsere Pläne und Hoffnungen abprallen.“ Thomas Dreger

Ali H. Qleibo: „Wenn die Berge verschwinden. Die Palästinenser im Schatten der israelischen Besatzung“. Mit einem Vorwort von Amos Oz. Palmyra Verlag, Heidelberg 1993, 36 DM