Der Mensch als GAU

Bücher über die „Altersexplosion“ haben derzeit Konjunktur  ■ Von Vera Gaserow

Wir sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Wir stehen mitten im Leben. Leistungsträger der Gesellschaft, nennt man Leute wie uns. Tatsächlich aber sind wir eine Katastrophe. Genauer gesagt, eine Zeitbombe. Wir explodieren. Nicht heute oder morgen, aber übermorgen. Spätestens 2030. Dann haben wir flotte 70, 80 Jahre auf dem Buckel. Und genau das ist die Katastrophe. Wir sind dann nicht nur alt. Wir sind zu viele – gemessen an den anderen, die viel zu wenige sind. Unsere Generation ist ein selbstverschuldeter GAU.

1993 war das „Jahr der Senioren“. Jedenfalls ist es von der EG- Kommission dazu gekürt worden. Außer dem Buchhandel hat das wahrscheinlich keiner gemerkt. Der aber registriert eine Fülle von Neuerscheinungen über das Altern. Zugegeben: Es braucht einige intellektuelle und emotionale Nackenschläge, diese unzähligen Bücher mit ihrer Mischung aus Apokalypse und krampfhaftem Mutmachen nicht gleich von sich zu schieben. Denn wenn dort von „Alten“, und „Pflegefällen“ die Rede ist, dann sind das tatsächlich wir. Und wer möchte schon gern eine „Altersexplosion“ auslösen oder Partei im „Generationenkrieg“ sein? Nur: Leider ändert Verdrängung an Fakten nichts.

Die Fakten: Die westlichen Industrieländer, allen voran die Bundesrepublik, vergreisen. Immer mehr Alten stehen immer weniger Junge gegenüber. Im Jahr 2030 wird ein Drittel unserer Bevölkerung älter als 60 sein. Jeder Erwerbstätige wird dann, neben seinen eigenen Kindern, noch einen Rentner „durchfüttern“ müssen. Der bisher gültige Generationenvertrag ist nicht mehr einzuhalten. 60 Prozent des Einkommens wird jeder für Steuern und Sozialversorgung ausgeben müssen. Eine Dimension, die aus dem Streit um die Pflegeversicherung einen lächerlichen Sandkastendisput macht.

„Die mittel- und erst recht die langfristigen Effekte des demographischen Wandels werden dieses Land und die Menschen nachhaltiger und einschneidender verändern als selbst die deutsche Einheit“, schreibt der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Klose. Klose hat in diesem Jahr gleich zwei Bücher über das Altern herausgegeben. Und wenn ein recht hochrangiger Politiker sich so engagiert des Themas annimmt, dann verliert das Problem wenigstens den einen großen Schrecken: daß die Politik das Problem genauso verdrängen könnte wie die Betroffenen selbst. Das hat etwas Beruhigendes. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten weckt es die bösesten Ahnungen. Klose beklagt zu Recht die „unzureichend ausgebildete gesellschaftliche Langsicht“, doch wie der SPD-Mann dann Sozialwissenschaftler, Unternehmer und Demographen über das Thema nachdenken läßt, ist die sicherste Art, die dringend nötige, breite Auseinandersetzung zu verhindern. Da ziehen sich „Nettoreproduktionsraten“ und „Altenquotienten“ durch die Kapitel. Da ist von „Erwerbsquoten“, „Kohortenfertilitätsraten“ und „demographischer Angebotslücke“ die Rede. Menschen sind bloße Kostenfaktoren, Altern wird ein Finanzierungsproblem. Daß es das ist, ist unbestritten – aber eben nicht nur.

Entsprechend eindimensional ökonomisch ist auch Kloses Lösungssuche: Die pilzförmige Alterspyramide der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wird zu Verteilungskonflikten zwischen den Generationen führen. An der Bevölkerungsstruktur können wir nachträglich nichts mehr ändern, also gilt es, fordert der Fraktionsvorsitzende, die Folgen „abzufedern“. Nur wie? Auch hier hört die Kreativität schon da auf, wo das Geld anfängt. Angedacht werden ausschließlich beschäftigungspolitische Variablen: flexiblere Arbeitszeiten, damit nicht – wie derzeit – nur ein Drittel der Alten das festgesetzte Rentenalter erreicht. Qualifizierungen für ältere Arbeitnehmer und schließlich der praktische Joker: gezielter Zuzug von jährlich ca. 300.000 ausländischen Arbeitskräften. „Kulturell ausbalancierte und sozial abgefederte Einwanderungspolitik“, heißt das bei Klose. Frisches Blut für die deutsche Rentenversicherung, aber bitte mit Sahne. Durchaus Sinnvolle Maßnahmen werden so auf ein zynisches Kosten-Nutzen- Verhältnis reduziert. Da kann der Buch-Titel zehnmal behaupten: „Altern hat Zukunft“.

Wo Kloses Bücher eindimensional das Primat der Arbeitswelt belichten, setzt Hans Mohl, langjähriger Leiter des ZDF- „Gesundheitsmagazins Praxis“, auf ein anderes Extrem. Der „Fernsehdoktor“ warnt als Gesundheitspolitiker vor der „Altersexplosion“. Flott geschrieben, bis über die Grenzen zum Reißerischen hinweg, fragt Mohl: „Droht uns ein Krieg der Generationen?“ Beantworten tut er diese Frage nicht, aber er zeigt anhand der Praxis, was passieren wird, wenn Politik und Gesellschaft das Problem weiter verdrängen und den Ist-Zustand gedanken- und verantwortungslos verlängern: Schon heute fehlen schätzungsweise 70.000 Alten- und KrankenpflegerInnen. In unserer auf Jugend getrimmten Gesellschaft nimmt sich jede zweite Stunde ein alter Mensch das Leben. Gerät unsere High-Tech- Medizin aus reinen Kostengründen an den Rand einer „Alters- Euthanasie“? Teure Herzoperationen, Dialysen, Hüftoperationen oder Reanimationen nur noch für Patienten unter 60 – in den USA werden diese Fragen längst konkret und drastisch diskutiert. Dort ist der Begriff ageism (analog zu racism) längst zum Schlagwort geworden. Mohls Buch zeigt so in Ansätzen auch, wie verkümmert die Diskussion hier ist.

Das anregendste Buch über die „Altersexplosion“ haben hingegen die jungen Schweizer Brauchbar und Heer geschrieben. Weder auf ökonomische noch auf medizinische Bereiche reduziert, schreiben die beiden Wissenschaftsjournalisten nicht bloße Gegenwart bis ins nächste Jahrtausend weiter, sondern melden Fragen an herkömmliche Konventionen an: Wieso macht die Werbung heute schon 55jährige zu Senioren? Warum muß man mit 65 in den Ruhestand gehen, wo viele „junge Alte“ noch sehr fit ist? Wo bleiben die neuen Wohnformen? Sehen die Alten im Jahr 2030 nicht ganz anders aus als heute? Und was kann und muß die Gesellschaft heute tun? Zugegeben: Der Optimismus, den Brauchbar/Heer verbreiten, hat derzeit wenig Entsprechung in der Realität. Aber das macht ihr Buch zu einem der wenigen, das die Beschäftigung mit dem Problem überhaupt erst möglich macht. Denn wer möchte ständig lesen, daß er eine tickende Zeitbombe ist?

Hans-Ulrich Klose (Hrsg.): „Altern der Gesellschaft“. Bund-Verlag, 330 Seiten, 29,90 DM

Hans-Ulrich Klose (Hrsg.): „Altern hat Zukunft“. Westdeutscher Verlag, 310 Seiten, 29,80 DM

Hans Mohl: „Die Altersexplosion“. Kreuz Verlag, 240 Seiten, 29,80 DM

Mathis Brauchbar/Heinz Heer: „Zukunft Alter“. Artemis & Winkler, 366 Seiten, 39,80 DM