■ Die Gewerkschaften in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit
: Ein epochaler Wandel

Der bundesdeutsche Erfolgsweg der letzten 40 Jahre ist eng verbunden mit einer starken Stellung der Gewerkschaften. Ihnen ist es zu verdanken, daß sich eine effiziente Synthese von Leistung und Solidarität, die jüngst als rheinischer Kapitalismus bezeichnet wurde, gerade in Deutschland besonders nachhaltig institutionalisieren konnte. In kaum einem anderen Industrieland hat der Rechts- und Sozialstaat den Kapitalismus so nachhaltig zivilisiert. Die damit entstandene Struktur relativer sozialer Gleichheit steht heute im Zentrum der aktuellen Debatten zur Bewältigung der sozioökonomischen Krise. Während die Unternehmer darauf setzen, daß die Krise zu einem Mehr an Ungleichheit führt, setzen die Gewerkschaften darauf, daß das Netzwerk sozialer Gleichheit die Auswirkungen der Krise eindämmen kann. Klar ist, daß es mit der Verteidigung der bestehenden sozialstaatlichen Strukturen nicht getan sein wird, um den bundesdeutschen Erfolgsweg auch unter den veränderten Bedingungen fortschreiben zu können.

Der epochale Wandel der Rahmenbedingungen ist mehrdimensional. Einerseits werden die Gewerkschaften durch die ökonomische Krise und den Wandel moderner Industriegesellschaften herausgefordert. In der Vergangenheit waren das mehr oder weniger stetige wirtschaftliche Wachstum und die Dominanz industrieller Produktion die beiden zentralen Grundpfeiler für die sozial- und rechtsstaatliche Zivilisierung des Kapitalismus. Seit einigen Jahren bestimmen abflachende bis negative Wachstumsraten, eine technologische Revolution und eine sinkende Bedeutung des industriellen Sektors die Entwicklungsdynamik. Vor dem Hintergrund von ökonomischer Krise und Massenarbeitslosigkeit wachsen die Anforderungen an den Sozialstaat im gleichen Maße, wie dessen Leistungsfähigkeit abnimmt. So treten an die Stelle der Verteilung gesellschaftlicher Lebenschancen immer häufiger soziale Zumutungen.

Während in den letzten 40 Jahren die Billiglohnkonkurrenten im südeuropäischen und pazifisch-asiatischen Raum waren und damit in relativer Ferne, sind nun neue Zentren in unmittelbarer Nähe entstanden. Zugleich hat sich der Wettbewerb mit den Konkurrenten im Hochtechnologiebereich zu Lasten Deutschlands verändert. Hinter der Gleichzeitigkeit dieser beiden Herausforderungen verbirgt sich die Etablierung einer neuen Weltmarktstruktur, vor allem einer neuen internationalen Arbeitsteilung, deren wichtigste Kennzeichen steigende Arbeitslosenzahlen in den Industrieländern und eine Zunahme bundesdeutscher Direktinvestitionen in den Billiglohnländern sind.

Um diesen Herausforderungen langfristig erfolgversprechend zu begegnen, muß gewerkschaftliche Politik eine Verbindung zwischen einer nationalen und einer internationalen Strategie herstellen. Das wichtigste mittelfristige Ziel der internationalen Strategie lautet: die soziale und demokratische Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses. So wie die Gewerkschaftsbewegung in ihren Anfängen die Durchsetzung nationaler sozialstaatlicher Regelungen auf ihre Fahne schrieb, so steht sie heute vor der zweifellos gigantischeren Aufgabe, diese sozialstaatlichen Regulierungen auf europäischer Ebene durchzusetzen.

VW – ein großer Erfolg in der Geschichte der Arbeiterbewegung

Genauso wie der Delorssche Vorstoß zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Europa eine Unterstützung für den gewerkschaftlichen Kampf in Deutschland darstellt, so ist es wichtig, daß in dem nach wie vor wirtschaftlich stärksten europäischen Land eigene Vorschläge und Konzepte realisiert werden, die zeigen, wie ein neuer Ausgleich zwischen Effektivität und Solidarität hergestellt werden kann. In dieser Hinsicht ist der VW-Kompromiß von wegweisender Bedeutung. Um den Preis eines halbvollen Lohnausgleiches ist es gelungen, die gemeinschaftsschädigende Entlassung von 30.000 Beschäftigten zu verhindern. Mit der Einbuße von ca. 10 Prozent des Jahreseinkommens konnten Freizeitgewinne von 20 Prozent ermöglicht werden. In der Geschichte der Arbeiterbewegung ist noch nie ein solch großer Sprung in der Arbeitszeitverkürzung erreicht worden. Zum anderen konnte erstmals eine Arbeitszeitverkürzung unmittelbar in eine zeitlich befristete Beschäftigungsgarantie umgewandelt werden.

Die Massenarbeitslosigkeit ist das verbindende Glied zwischen der nationalen und der internationalen Politik. Es gibt keinen Königsweg gegen die Arbeitslosigkeit. Aber ohne eine politische Prioritätensetzung, die sich auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bezieht, ist ein Gegensteuern nicht zu erreichen. Neben der Arbeitszeitverkürzung ist gerade die Vermehrung von Teilzeitarbeit, die in der Bundesrepublik verglichen mit anderen Ländern noch unterproportional verbreitet ist, ein wichtiges Instrument. In Zukunft wird den öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen eine wichtige Aufgabe zukommen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Teilzeitarbeitsverhältnisse und ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor stellen aber auch besondere Herausforderungen für die Gewerkschaften dar, denn hier müssen sie sich als Regelungskraft noch bewähren. Sie müssen Regelungen finden, die den besonderen Bedingungen dieser Teilarbeitsmärkte gerecht werden: Zu einer aktiven Arbeitspolitik aus gewerkschaftlicher Sicht gehört auch die kontrollierte Einführung flexibler Arbeitszeiten, die Unterbindung illegaler Arbeitsverhältnisse, die Ausweitung und Verbesserung von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie die Kombination von Arbeits- und Bildungszeiten.

Die Massenarbeitslosigkeit darf nicht zum tödlichen Krebsgeschwür der Gesellschaft werden. Deshalb gilt es auch, einen Wertewandel entschieden voranzutreiben, der die Arbeit zu einem identifikationsstiftenden Merkmal unter anderen herabstuft, so daß ein vorübergehendes oder endgültiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht gleich Persönlichkeits- und Identitätskrisen nach sich zieht. Nur wenn es gelingt, plurale Identitäten herauszubilden, wird eine durch Arbeitslosigkeit erzeugte Identitätskrise nicht gleich zu einem Rückgriff auf ethnische oder nationalistische Bezugspunkte führen.

Gewerkschaften stehen gerade in Zeiten ökonomischer und sozialer Umbrüche unter dem Erwartungsdruck, Gegenwehr und Zukunftsgestaltung kreativ zu verbinden. Im Gegensatz zu den letzten 40 Jahren wird es deutlich schwieriger werden, den bundesdeutschen Erfolgsweg fortzuführen. Um der zunehmenden Internationalisierung der eigenen Handlungsbedingungen Rechnung zu tragen, ist es wichtig, daß die Gewerkschaften sich intensiv mit den weltweit führenden Arbeits- und Produktionstechniken auseinandersetzen. Es geht dabei nicht um die Kopie des japanischen oder amerikanischen Modells, sondern um die Übertragung von besonders effizienten Produktions- und Arbeitsmethoden auf die eigenen Strukturen. Die Durchsetzung von Beschäftigungssicherheit und die Übernahme unternehmerischer Verantwortung für die Folgen der Krise ist ein richtiger Schritt in diese Richtung. Wolfgang Schroeder,

Wolfgang Kowalsky,

Hans-Joachim Schabedoth

Referenten für Grundsatzfragen beim IG- Metall-Vorstand in Frankfurt/M.