Hunger in Finnland?

Ankunft der ersten Hilfssendungen läßt die Regierung um ihr Auslands-Image fürchten  ■ Aus Helsinki Reinhard Wolff

Der erste Sattelschlepper mit Hilfsgütern wurde vor einer Woche im Hafen von Helsinki aus der Autofähre entladen. Hungerhilfe für Finnland – wo die FinnInnen gleichzeitig eifrig für Bosnien und den Sudan spenden? Eilig luden Außen- und Sozialministerium die ausländischen MedienvertreterInnen zu einer Pressekonferenz ein: Die Berichte über die finnische Wirtschaftskrise seien maßlos übertrieben, in Finnland herrsche weder Mangel an Lebensmitteln noch an Kleidung.

Wie es zu dem Bild eines langsam verhungernden finnischen Volkes kam, ist ein kleines Lehrstück in Sachen Katastrophenjournalismus. Im November sendete der schwedische Rundfunk einen Beitrag seiner Finnland-Korrespondentin, welcher offenbar fremd war, was in nahezu allen europäischen Großstädten Alltag ist: Vor der Brot- und Essensausgabe der Heilsarmee und der Obdachlosenasyle bilden sich morgens, mittags und abends Schlangen von Hilfesuchenden. Tenor des Beitrags: Finnland hungert, die Menschen müssen stundenlang für ein Stück Brot und eine dünne Suppe anstehen. Hungerkatastrophe im Nachbarland? Alle großen schwedischen Blätter schickten ihre Reportageteams los, die auch prompt die gewünschten Bilder von Brotschlangen und Suppe löffelnden Rentnern heimbrachten. Der Mann von Reuters sorgte dann dafür, daß die finnische Hungerstory in alle Welt getickert wurde.

Finnland hungert nicht. Aber die Zahl der Menschen, die mit den paar Mark der Sozialhilfe nicht mehr klarkommen und deshalb bei der Brot- und Suppenausgabe der Heilsarmee anstehen, ist deutlich angestiegen. Und in den nächsten Monaten werden weitere Zehntausende aus der Arbeitslosenhilfe herausfallen, weil ihr zeitlicher Anspruch – 500 Tage – aufgebraucht sein wird. Die statistische Arbeitslosigkeit liegt über 20 Prozent. Bei den unter 25jährigen ist schon mehr als jedeR dritte ohne Arbeit. Die Kosten für Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind explodiert und drosseln den Konsum weiter, was wiederum höhere Arbeitslosigkeit schafft. In der Statistik ist die jetzige Wirtschaftskrise doppelt so schlimm wie die der dreißiger Jahre.

Ein Fünftel der Jobs wegrationalisiert

Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Zugleich verdient sich nämlich die Exportindustrie eine goldene Nase. Die Krise wurde schnell genutzt, um Arbeitskräfte wegzurationalisieren und damit die Kosten zu senken. In Zahlen: dasselbe Industrieoutput wie 1989 wird jetzt von 100.000 Beschäftigten weniger produziert. Das entspricht einem Fünftel der Arbeitslosen. Durch diese Schrumpfaktion und durch die Abwertung der Finnmark – gegenüber dem Dollar hat sie in einem Jahr 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt – ist die Holz-, Papier-, Werft- und Maschinenbauindustrie international so konkurrenzfähig geworden, daß aus EU-Ländern schon die ersten Dumpingvorwürfe kommen: Gewerkschaften in Frankreich und Großbritannien forderten kürzlich, die Einfuhr finnischer Holz- und Papierprodukte zu stoppen, da deren Niedrigpreise die einheimische Branche kaputtmachten.

Für die Regierung sind die Fortschritte der Exportwirtschaft der Beweis dafür, daß das tiefste Tal der Krise durchschritten sei. Doch die Erfolge der Exportindustrie schlagen sich weder auf dem Arbeitsmarkt noch in den öffentlichen Kassen positiv nieder. Nach einer anderen Medizin als dem Glauben an den Export sucht man im Medizinschrank der Regierung unter Ministerpräsident Esko Aho jedoch vergeblich.

EU-Mitgliedschaft als Allheilmittel?

Das Rezept ist auf den ersten Blick auch einleuchtend. Der Beginn der wirtschaftlichen Abwärtsfahrt fiel vor drei Jahren zusammen mit dem Wegbrechen des wichtigen östlichen Exportmarktes. Hatte der bequeme und sichere Tauschhandel mit der Sowjetunion einst für ein Viertel des finnischen Außenhandels gestanden, plumpste er damals fast auf null. Große Teile der finnischen Wirtschaft hatten es in all den Jahren der sicheren finnisch-sowjetischen Handelsabkommen verlernt, was es heißt, auf dem Weltmarkt konkurrieren zu müssen. Bevor sie sich auf neue Produkte und Märkte umgestellt hatten, waren sie bereits pleite. Die Regierung änderte als Reaktion nur ihre Haltung zur EU. War eine Mitgliedschaft bis dahin nicht einmal Diskussionsthema, wurde sie jetzt zum Allheilmittel.

Nicht nur die Wartezeit auf die EU-Mitgliedschaft hat einen dicken Strich durch diese Rechnung gemacht. Auch die Wunderdinge, die man sich vom Dabeisein in Brüssel verspricht, könnten sich schnell als Illusion erweisen. So wie die Ergebnisse der Beitrittsverhandlungen derzeit aussehen, dürfte die Landwirtschaft etwa so schnell auskonkurriert werden, daß in zwei bis drei Jahren ein neuer Arbeitslosenschub verkraftet werden muß. Die Stimmen gegen die EU werden lauter. Zumal ein nordisch-baltischer Wirtschaftsraums bald nicht mehr ein bloßes Hirngespinst sein mag.

Ob mit oder ohne EU: das Hoffen auf die vom Exportboom ausgelöste Wende ist müßig. Mit immer weniger Geld in der Lohntüte ist der Konsum nicht anzukurbeln. Die Gewerkschaften haben mit zwei Nullrunden das ihre beigetragen, die Arbeitskräfte billig zu machen. Ein öffentliches Investitionsprogramm zwecks Nachfrageerhöhung fordern daher Gewerkschaft und Opposition. Da in den Kassen Ebbe herrscht und sich die Regierung einer weiter ansteigenden öffentlichen Verschuldung widersetzt, besteht die Wirtschaftspolitik derzeit aus Nichtstun.

Im November fand in Helsinki die größte Arbeitslosendemonstration aller Zeiten statt. Erste gewaltsame Zwischenfälle machten klar, daß sich Finnland auf einen heißen Winter einstellen muß. Denn die Kluft zwischen den vielen da unten ohne Arbeit und denen da oben, die Däumchen drehen, vergrößert sich durch das Aufdecken immer neuer Korruptionsskandale. Die auffallend geringe Initiative der Unternehmen, neue Wege zu gehen, neue Produkte und Marktlücken zu suchen, erklären SoziologInnen mittlerweile bereits mit einer regelrechten Lähmung, die die ganze finnische Gesellschaft erfaßt habe, ausgelöst durch den Sturz vom blühenden Wohlstandsland zum Almosenempfänger.