Wie eine Spinne im Netz

■ Gesichter der Großstadt: Der Informatikstudent Jesper Richter-Reichhelm koordiniert das Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses

„Ich bin hier kein Chef. Vielleicht so 'ne Art Büroleiter.“ Jesper Richter-Reichhelm fällt es schwer, seine Funktion in der Arbeitsgemeinschaft Volksbegehren zu umschreiben. Ohne es so recht zu wollen, ist der 22jährige zu einer zentralen Figur der studentischen Initiative geworden. Über die Hälfte der 80.000 benötigten Unterschriften haben TU-StudentInnen zusammengebracht, um ein Volksbegehren zu erzwingen. Dadurch sollen bereits nächstes Jahr Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus stattfinden.

„Ich bin die Spinne im Netz“, meint der blonde Informatikstudent nach längerem Überlegen. „Bei mir laufen die Fäden zusammen, und ich gebe Informationen weiter.“ Jesper Richter-Reichhelm wägt jeden Satz sorgfältig ab. Zu seiner korrekten und zurückhaltenden Ausdrucksweise paßt sein ruhiges Auftreten, das im angenehmen Kontrast zur Hektik im Koordinationsbüro des besetzten Franklin-Gebäudes der TU steht.

Zehn bis zwölf Stunden täglich ist er im Dienste des Plebiszits tätig. „Zu Beginn waren es noch 13 bis 14 Stunden. Aber das hat sich zum Glück geändert.“ Trotzdem – zum Studieren bleibt ihm keine Zeit mehr. Doch diese Frage stellt sich dem Arztsohn aus Berlin zur Zeit nicht: Die Informatiker streiken. „Die Zusatzbelastung von 60 Stunden pro Woche würde ich nicht schaffen. Dann könnte ich das Semester schmeißen. Ich bin von meinen Kommilitonen abhängig, die den Streik organisieren.“

Anfangs hatte Jesper Richter- Reichhelm noch „enorme Zweifel“ am Gelingen der Aktion. „Aber seit den ersten Hochrechnungen weiß ich, daß wir das schaffen.“ Das klingt überzeugend, denn er wirkt sehr souverän. Sein Blick geht geradeaus, er gestikuliert kaum. Ein aalglatt wirkender Typ im grauen Rollkragenpullover. Daß ihm durch sein nordisches Temperament – seine Mutter ist Dänin – Spontaneität abgeht, gibt er offen zu. „Ich bin nicht der Entertainer, der auf Leute zugeht. Aber ich empfinde mich auch nicht als Einzelgänger. Wenn ich Leute gut kenne, dann gehe ich auch mal aus mir raus.“

Ganz abgesehen vom Ausgang der Unterschriftensammlung hat sich das Engagement in der Arbeitsgemeinschaft für den Siebtsemestler jetzt schon gelohnt. „In diesen paar Tagen habe ich mehr übers Leben gelernt als in den ganzen Jahren zuvor. Das fängt bei Kleinigkeiten an: Wie verhandelt man mit einer Druckerei über Druckaufträge? Was steht im Hochschulgesetz? Wie baut man eine Pressemitteilung auf? Und dann vor allem das Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Kommilitonen, um die Sache am Laufen zu halten. Man lernt, Menschen einzuschätzen.“

Jesper Richter-Reichhelm war bisher politisch nicht aktiv. „Nach dem Abitur hatte ich mir überlegt, der ÖDP beizutreten. Ich dachte, die würden politisch zwischen der SPD und der GAL stehen, bis sie in Westdeutschland eine Koalition mit den Reps eingingen. Fast wäre ich darauf reingefallen. Das war ein Rückschlag für mich.“

Jetzt glaubt er aber, „wirklich etwas bewegen zu können“. Die Kürzungen an der TU hätten ihn „unsanft auf den Boden der Tatsachen fallen lassen. Mich betreffen die neue Regelstudienzeit, die Zwangsexmatrikulation und die Studiengebühren zwar nicht mehr. Aber wir haben Verantwortung gegenüber denen, die nach uns kommen.“ Das Wort „Verantwortung“ kommt dem großgewachsenen Studenten häufig über die Lippen. Verantwortung zu tragen, eigenständig zu arbeiten und ein „preußisches Pflichtbewußtsein“, das seien Qualitäten, die er von seinem Elternhaus mitgekriegt habe. Das ist für ihn die eine Erklärung dafür, daß er so schnell zum harten Kern der Arbeitsgemeinschaft gestoßen ist, nachdem er von Freunden aus der Asta von dem Vorhaben erfahren hatte. „Halbe Sachen machen mich unzufrieden. Deshalb habe ich angefangen, die Dinge zu koordinieren. Es muß professionell sein.“ Die andere Erklärung ist viel banaler. „Ich hatte anfangs den Schlüssel ins Büro. Deshalb bin ich als erster gekommen und als letzter gegangen.“ Martin Hörnle