Stadtmitte
: Hunderttausende warten auf Aufklärung

■ Erst die Hälfte der Anträge auf Akteneinsicht sind bearbeitet, und immer noch kommen monatlich zehntausend neue Anträge

Ich möchte an Weihnachten vor vier Jahren erinnern: Die DDR gab es noch. Die innerdeutsche Grenze konnte bereits passiert werden, aber noch waren Pässe vorzuzeigen. Seit drei Wochen saßen DDR-Bürger in einigen Bezirksverwaltungen des MfS und bewachten die Stasi-Akten. Diese Hinterlassenschaft des MfS sollte bewahrt und genutzt werden. „Freiheit für meine Akte“ hieß eine Forderung der Bürgerbewegung. Dennoch kündigte sich kein friedliches Weihnachtsfest an: Vermutungen und Gerüchte machten über Spitzeltätigkeiten die Runde, bislang unterschwelliges Mißtrauen wurde offenbar und schuf einen öffentlichen Unfrieden, den es so nicht gegeben hatte.

Aber die Menschen nahmen den Dissens an. Viele wollten ihre Schicksale aufklären und ihr Mißtrauen entkräften. Ihren Forderungen entsprach das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Inzwischen sind die Akten seit zwei Jahren „offen“.

Über 70 Prozent der 180 Kilometer Akten wurden erschlossen. Insgesamt gingen fast zwei Millionen Anträge ein, die meisten zur Überprüfung. Fast die Hälfte der rund 700.000 Anträge auf Akteneinsicht sind bearbeitet. Manche Bürger haben erfahren, daß gegenwärtig keine Akten über sie aufgefunden werden können. Über andere gab es „nur“ Karteivermerke. Aber viele konnten Aufschlüsse über ihre Biographien gewinnen, ihr Leben besser verstehen und manchen aus dem Verdacht der Stasi-Zuträgerei entlassen. Zahlreiche Briefe an die Sachbearbeiter, die die Akteneinsichten vorbereiten, belegen, welche Bedeutung die Akteneinsicht für den einzelnen hat. Und noch immer warten Hunderttausende auf ihre Akteneinsicht.

Gegenwärtig erscheinen mir zwei Tendenzen beachtenswert. Seit laut gefordert wurde, die Akten zu schließen, steigt die Zahl der eingehenden Anträge auf Akteneinsicht. Über 10.000 waren es allein im vergangenen Monat. Viele Bürger rufen in der Behörde an, andere erscheinen persönlich. Denn sie befürchten, die Akten könnten geschlossen werden, bevor alle Einsicht haben.

Diese Reaktionen bestätigen die Richtigkeit der Entscheidung zweier deutscher Parlamente, die Akten zu öffnen. Die Bürger haben das Gesetz angenommen und bestehen auf ihrem Recht. Entsprechend sensibel gehen sie mit den Informationen um, die sie aus der Akteneinsicht gewinnen.

Viele Briefe von Bürgern belegen, daß die Akteneinsichten nicht zu Feindseligkeiten führten, sondern zu Aussprachen und in der Regel auch zu Versöhnung und Vergebung. So gibt es beispielsweise bei vielen Dankbarkeit, weil Bekannte und Freunde dem Staatssicherheitsdienst nicht gedient, der Diktatur widerstanden haben. Für viele Menschen ist das Weihnachtsfest 1993 also befreiter und friedlicher als das vor vier Jahren. Der Weg zu diesem Frieden hat über den Dissens geführt. Doch daß sich ein Volk von über vier Jahrzehnten Diktatur ohne Auseinandersetzung verabschieden würde, hat damals, als das Ausmaß des SED-Unterdrückungsapparats offenbar wurde, niemand ernsthaft geglaubt. Joachim Gauck

Der Autor ist Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.