Der neue große Brauch

Peter Zadek inszeniert erstmals Brecht: „Der Jasager und der Neinsager“ am Berliner Ensemble  ■ Von Petra Kohse

Etwa vierzig Minuten dauert die Aufführung. Die Schauspieler grinsten ein bißchen, als sie sich beim Premierenapplaus verbeugten. Vielleicht dachten sie, daß ein Publikum, das mit dem Applaus scheinbar sein Einverständnis bezeugte, das Lehrstück vom Einverständnis gar nicht verstanden haben kann. Sie irrten sich.

1930 urinszenierte Bertolt Brecht „Der Jasager“ als „Schuloper“. Es ist die Geschichte von einem Jungen, der an einer Forschungsreise durch die Berge teilnimmt. Seine Mutter ist krank, und er schließt sich jener Gruppe an, die Medizin und wissenschaftlichen Rat holen will. Aber die Expedition ist zu anstrengend. Damit er die anderen nicht behindert, erklärt er sich damit einverstanden, daß sie ihn – wie es „der große Brauch“ in einem solchen Fall erfordert – vom Berg herabstürzen.

Die Schüler, vor denen Brecht dies spielen ließ, lehnten den Ausgang der Handlung ab. So schrieb Brecht ein zweites Stück dazu: „Der Neinsager“. Hier verweigert der Junge sein Einverständnis: „Wenn es drüben etwas zu lernen gibt, was ich hoffe, so könnte es nur das sein, daß man in unserer Lage umkehren muß. Und was den alten großen Brauch betrifft, so sehe ich keine Vernunft an ihm. Ich brauche vielmehr einen neuen großen Brauch, den wir sofort einführen müssen, nämlich den Brauch, in jeder Lage neu nachzudenken.“

Wenn schon, denn schon, wird sich Peter Zadek gedacht haben, als er diese staubtrockenen Thesenstücke zum Text seiner ersten Brecht-Inszenierung erkor. Das Besserwisserische, Lehrhafte widerstrebt Zadek eigentlich zutiefst. Seine Inszenierungen sind sinnlich, er stellt Figuren nicht an den Pranger, sondern nimmt ihr Verhalten hin und versucht, eine szenische Erklärung zu finden. Hier verzichtet er darauf.

Hermann Lause tritt auf, durch ein dünnes, aber langes Ziegenbärtchen entstellt. Er sagt, wer er ist (der Lehrer) und was er vorhat (dem Jungen und seiner Mutter Lebewohl sagen). Dann tut er es. Er klopft an die Tür, man läßt ihn ein. Auftritt die Mutter. Eva Mattes hat ein Tuch um den Leib geschlungen und sagt, sie sei krank. Sie setzen sich auf zwei Stühle und blicken starr ins Publikum, wenn sie nicht gerade miteinander sprechen. Zadek läßt jedes Wort so deklamieren, wie es bei Brecht steht. Auch jede Regiebemerkung wird brav erfüllt. Das hört sich an wie Schultheater – und ist es auch.

Uwe Bohm kommentiert das überhaupt nicht mißzuverstehende Geschehen noch als „der große Chor“, der Junge wird eben von einem Jungen gespielt (Olaf Steingräber), und die drei Studenten (Georg Bonn, Patrick Lanagan und Margot Vuga) sind drei Studenten, die im Chor ihr traditionelles, aber unmoralisches Mordgelüst verlautbaren. Später brechen sie mit der Tradition und beweisen Einsicht.

Mit dem Zeigestock zeigt Zadek auf den Zeigestockdramatiker Brecht. Das ist eine durchaus amüsante, wenn auch überflüssige Persiflage. Bestenfalls ein Akt der totalen Verweigerung. Der Regisseur spielt damit, daß alle wissen, daß Eva Mattes und Hermann Lause wunderbare Schauspieler sind. Und er spielt damit, daß alle vermuteten, er würde auf seine alten Tage nun versuchen, Brecht lebendig zu machen. Das tut er nicht. Im Gegenteil. Er führt auch die entsprechenden Bemühungen seiner Intendantenkollegen Palitzsch und Müller ad absurdum. Eine These ist eine These und kein Theater, und Brecht ist Brecht ist Brecht ist Staub ist Geschichte und gehört ins Archiv.

„Der Jasager und der Neinsager“ ist eine kleine Gehässigkeit von Peter Zadek, ein zynischer Kommentar und ein Hinweis darauf, daß für ihn die Zukunft des Berliner Ensembles nur brechtlos sein kann. Über den großen Brauch muß neu nachgedacht werden. Da muß man einfach applaudieren. Eine entsprechende Pressemeldung hätte allerdings den gleichen Zweck erfüllt.

„Der Jasager und der Neinsager“ von Bertolt Brecht. Regie: Peter Zadek, Ausstattung: Johannes Grützke. Mit Georg Bonn, Uwe Bohm, Patrick Lanagan, Hermann Lause, Eva Mattes, Olaf Steingräber und Margot Vuga. Nächste Vorstellungen: heute, 10 Uhr, 22.12., 22 Uhr, 26.12., 14.30 Uhr und 27.12., 16 Uhr. Berliner Ensemble, Am Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte. Wegen der kurzen Vorstellungsdauer gilt ein Einheitspreis von 15 DM (ermäßigt 7,50 DM).