Katarina und ihre Aschenputtel

Warten auf SIE: das Comeback von Katarina Witt bei den Deutschen Meisterschaften stellte alles in den Schatten, was der Eiskunstlauf hierzulande je erlebt hat  ■ Aus Herne Cornelia Heim

Die Luft wird knapp, der niedere Raum unter der Tribüne der Gysenberghalle immer voller. Hier soll die Pressekonferenz der drei besten deutschen Eiskunstläuferinnen stattfinden. Doch Tanja Szewczenko, Katarina Witt und Marina Kielmann fehlen. Dafür kommen immer mehr Journalisten. Die Fotografen behindern sich gegenseitig mit ihren langen Objektiven. Kaum Platz für die Kamerateams aus Japan, Frankreich (2), Norwegen, Großbritannien und den USA. Selbst die Eiskunstlauf-Frau vom ZDF, Christa Gierke, steht in der zweiten Reihe. Ein Japaner vor ihr probiert zum 20. Mal, ob das Lämpchen an seinem Aufnahmegerät auch leuchtet. Alle in hektischer Gespanntheit auf SIE. Doch SIE kommt nicht.

Journalisten treten sich auf die Füsse, sind es wirklich 300? Nicht ganz. Aber zu viele für diesen Raum. Schwere Fototaschen karambolieren mit der Hüfte des Neben-, Vorder-, Untermannes. „Schön, daß alles so gekommen ist, wie wir es uns erhofft haben“, sagt der Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union (DEU), Peter Krick, zur ZDF-Frau. Ja, wirklich schön. Katarina Witt hat sich als Zweitplazierte für die Europameisterschaft qualifiziert. Der Rummel kann weitergehen.

Wirklich schön. Herne wurde überrannt von einer Horde wildgewordener Journalisten. Stampede im Provinzstädtchen, das auf die publizistische Hysterie, die das Comeback der Eiskönigin a.D. ausgelöst hat, nicht eingerichtet war. „Wir sind bis auf das letzte Mauseloch ausgebucht“, hieß es im Herner Fremdenverkehrsamt, „seit vier Wochen.“ Seit der Ära von Kilius/Bäumler in den sechziger Jahren habe es „so etwas“ nicht mehr gegeben, schwelgt der Sportdirektor mit leuchtenden Augen angesichts voller Kassen und Zeitungen, in denen Eiskunstlauf, zwar nur in personam Witt, aber immerhin Eiskunstlauf, gleich unter der Hochzeit von Boris und Barbara Becker auf der Titelseite plaziert wird. Seit 30 Jahren kamen alle Jahre wieder in schöner familiärer Vertrautheit etwa 20 Journalisten zu deutschen Titelkämpfen.

„Was ist das hier?“ fragt ein Rundfunkmensch, der sich durch Schichten von Kollegen an das Rednertischchen vorarbeiten muß, um sein Mikro in Hörweite postieren zu können, „Olympische Spiele?“ Nein, es ist „Warten auf SIE.“ Jetzt kommt – Marina Kielmann. Jemand klatscht. Ganz kurz. Die 25jährige Vize-Europmeisterin, deren Medienerfolge in der Hauptsache auf der Tatsache beruhen, daß sie ein Schlitzohr als Freund hatte, setzt sich auf das Plastikstühlchen. Wartet. Keine Fragen. Sie trägt noch das veloursamtene Kostüm ihrer Kür, die Haare mit gelb-weißen Blümchen drapiert. Sie lächelt. Die viele Farbe in ihrem Gesicht kontrastiert merkwürdig mit ihrer stillen Bescheidenheit. Sie wartet brav. Wie alle anderen. Betont desinteressiert hatten die Konkurrentinnen von Katarina Witt auf die neue Liebe der Presse für ihren Sport reagiert. Wie um sich selbst diese One-Woman-Show erträglicher zu gestalten. „Wurstegal“ sei ihr, „was die Katarina macht“, hatte Simone Lang zuvor getönt. Jetzt leidet die Oberstdorferin am spürbarsten unter dem Comeback von Katarina der Großen: Sie wurde Vierte in Herne, ist bei der EM in Kopenhagen nicht dabei.

Nun kommt – die deutsche Meisterin: Tanja Szewczenko (16), eine zurechtgeschminkte Kindfrau, nein, ein Mädchen. Nett. Wirklich. Die „Franziska van Almsick des Eislaufens“ hat sie eine Agentur genannt. Ihrer Unbekümmertheit wegen. „Mein Schnatterentchen“ nennt sie ihr Trainer Peter Meyer und knuddelt bei jedem Wettkampf seine Anspannung in ihren Talismann, die rosarote Ente in seiner Hand. „Komisch“ sei es schon, „wenn die Mädchen draußen an der Ballustrade stehen und sich die Kameras nur auf die eine richten“.

Katarina Witt, ein Star. Zwölf Jahre älter. Aber Lichtjahre entfernt? „Nöö“, plappert Tanja, deren Sprunggewalt auf dem Eis größer ist als ihre Schauspielkunst. Umgekehrt proportional zu ihrem Vorbild. Im Park beim morgendlichen Joggen seien sie sich begegnet. Plauderte sie vor der Kür. „Ganz natürlich“, sei sie, „die Katarina“. „Nicht unnahbar.“

SIE fehlt immer noch. Es geht trotzdem los. Die Fragen kreisen nur um die Eine. Was denn anders war, unter diesen besonderen Umständen: Tanja Szewczenko will zum erstenmal vor der Kurzkür ein „Kribbeln im Bauch“ verspürt haben. Marina Kielmann (25), die Titelverteidigerin, die sich mit Platz drei begnügen mußte, bemüht hingegen allem Anschein zum Trotz die Kategorien der Normalität. „Die Aufregung war wie vor jedem Wettkampf.“ Im übrigen sei sie von niemandem geschlagen worden, nur von sich selbst. Zwei Stürze. Ausgerechnet, wo doch alle Lästerer behauptet hatten, bei den Sprüngen sei Katarina Witt wie ein Kröte ohne Kraft. „Seitdem die Pflicht abgeschafft wurde, sind Athletik, Dynamik bei den Damen Pflicht“, doziert auch gerne Peter Meyer, der Trainer der deutschen Meisterin.

Wie sie die Leistung der Kati Witt beurteilen? Da können sich die beiden von den Medien und IHR zu Aschenputteln degradierten Sportlerinnen doch bei aller bemühten Artigkeit eine herablassende Bemerkung nicht verkneifen. Die zwei Dreifachsprünge, die sie beherrsche, Toe-loop und Salchow, habe sie wohl gestanden, meint Marina Kielmann etwas süffisant. Und zur Bekräftigung wiederholt es Tanja Szweczenko, die selbst fünf der sechs Dreifachsprünge drauf hat. Nach zehn Minuten ist alles geschwätzt. „Noch eine Frage?“ – „Wo bleibt Katarina Witt?“ – „Eine gute Frage.“ Die beiden haben ihre Schuldigkeit getan, sie dürfen gehen. In der Eishalle waren sie wärmer empfangen worden, beim Heimspiel für die Düsseldorferin und die Dortmunderin. Dann kommt – Elisabeth Gottmann, die Managerin, welche die Königin im Alltag von den Zudringlichkeiten der Pressefritzen fernzuhalten pflegt. „Wir wußten gar nicht, daß Pressekonferenz ist“, entrüstet sich diese. „Ich weiß nicht, ob Katarina jetzt noch kommen mag.“ Kaum ist die aufgeregte Dame wieder zur Tür draußen, steht SIE in der Tür. In schwarzer Jogginghose, schwarzem Vlies und Turnschuhen. Schlicht, fast ungeschminkt, diesmal ohne ihre Baseballkappe, auf der sie seit Tagen demonstrativ ein rotes „no fear“ zur Schau getragen hatte. Blitzlichtgewitter. „Ach, wir hätten Marina und Tanja jetzt schon gerne daneben gehabt“, erregt sich Frau Gottmann, wild gestikulierend. Keiner nimmt sie wahr, ein verständnisloser Blick Katarina Witts bringt sie zum Verstummen. Endlich.

Das ist ihr Tag. Ihre Show. Sie genießt die mediale Aufmerksamkeit. Alleine. Wie sie die kollektive Anteilnahme auf dem Eis genossen hat. „Ich habe so viele Briefe, so viele Maskottchen nach dem Fiasko in Frankfurt bekommen“, erzählte sie am Vortag. Alle haben mit der Doppel-Olympiasiegerin, die den wahnsinnigen Versuch unternimmt, die Zeit zurückzudrehen, mitgelitten. Es hat ihr gut getan. Weil in Herne alle begriffen haben, worauf es der 28jährigen ankommt: auf die „Kunst“ im Eislauf.

In der Pressekonferenz gibt sie sich wie auf dem Eis. Sie wirkt. Weil sie lebt. Sie moduliert ihre Stimme je nachdem, was sie sagt – scharf, spitz, elegisch, träumerisch. Ganz so wie sie mit vollem Körpereinsatz in Kontakt mit dem Publikum in der Eishalle trat. Katarina Witt kann, was keine kann – Pausen mit Leben füllen. Warten. Die Hände auf dem Rücken, kerzengerade. Beim Beginn ihrer Kür. Sekundenbruchteile auskosten. Ausbrechen, übers Eis fliegen. Stumm reden. Musik fühlen und in Bewegung fließen lassen. Mit raumgreifendem Schritt wie eine Magierin die Tribüne in ihren Bann ziehen. Daß Sprünge fehlten? Es mag die Preisrichter gestört haben. Nicht die 2.500 Zuschauer in der Gysenberghalle.

„Es ist eine Rückkehr der Frau“, sagt Alain Billouin von L'Equipe, der wegen diesem „Weltereignis“ in Herne sogar die französischen Meisterschaften ausfallen ließ. Eine Frau, die auf dem Eis keine Barriere zwischen Kopf und handelndem Körper zu behindern scheint. Die mit dem Publikum kommuniziert, wie sie mit Journalisten hadert oder flirtet. Ganz nach Belieben. Zweitrangig sei das Ergebnis. Das Schönste: „die Gänsehaut, die den Leuten über den Rücken läuft. Wenn ICH laufe.“ Tja, wirklich schön, daß sie wieder da ist.