Vorstoß unter die Haut

Punk-Leihgabe oder Griff in die Ethno-Schublade? Das Durchbohren des Körpers ist jedenfalls hip  ■ Von Stefanie Heim

Für das sogenannte Punk-Revival zeigt man nach aufgesetztem „Love and Peace“-Gebaren in Schlaghosen und flatternden Blümchenkleidern nun wieder Krallen beziehungsweise schmerzhaft erworbenen Körperschmuck. Das Stichwort heißt „Body-Piercing“. Tattoos haben als Modegag ausgedient, jetzt müssen Edelmetalle durchs Fleisch getrieben werden. Durchringt werden Augenbrauen, Lippen, Zunge, Nase, Brustwarzen, Bauchnabel und weitaus intimere Körperteile...

Schmückende Ohrdurchbohrungen haben in Europa Tradition. Alle anderen Körperteile, die in rituellen Handlungen oder zum Schmuck durchstochen werden, gehören in den Kulturkreis afrikanischer, indianischer und indischer Völker. Ethnische Zitate stehen momentan hoch im Kurs, kommt man sich doch so schön ursprünglich vor – back to the roots. Bloß zu welchen? In Ägypten galt das tiefe Durchbohren des Bauchnabels als ein Zeichen von Herrschaftlichkeit und Gottesnähe. Und schon Caesars Bodyguards sollen Ringe durch die Brustwarzen getragen haben: einmal als Zeichen für ihren Mut und zugleich als praktisches Accessoire, um die kurzen Capes daran zu befestigen. Noch heute tragen Frauen in Indien Nasenringe, die über Ketten mit dem Ohr- und Haarschmuck verbunden sind.

Das erinnert an das Jahr 1976: Punks behängten ihre mehrfach durchbohrten Ohrläppchen mit Sicherheitsnadeln und unzähligen Ringen und befestigten schwere Ketten daran. Der ätzende Protest gegen das bestehende System verkam ebenso wie die buntgefärbten Haare, Hundehalsbänder und die „Müll“-klamotten innerhalb weniger Jahre zum „Fashion-Ding“ einer Schickeria auf der Suche nach dem ultimativen Kick. 17 Jahre später gibt es dann alles auf einmal: Wie in einem Schnelldurchlauf durch die Filmgeschichte hantiert man mit Uraltkostümen ebenso wie mit Accessoires gerade erst zu Ende gegangener Jahrzehnte, die man blitzschnell mal eben „revivalt“.

Man liebt die Extreme – ohne sich jedoch mit der überlieferten Bedeutung zu beschäftigen. Das sanfte Hippiegewand wird mit den ehemals schockierenden Punk- Outfits mühelos kombiniert. Selbst von den Prêt-à-porter-Shows des Pariser Starcouturiers Jean-Paul Gaultier werden Einlagen mit Schockeffekt in der Zwischenzeit geradezu schon erwartet: Das Enfant terrible der Modewelt schickte gepiercte Models mit Glatze über den Laufsteg. Und sogar Edel-Modeschöpfer wie Gianni Versace lassen derzeit ihre maschinell zerschnittenen Edelpullover mit nihilistischem Punk-Anstrich von Models mit kräftigen Nasenringen präsentieren.

Ganz neu sind Augenbrauenringe sowie Lippen- und Zungenstecker; die tragen bislang nur die ganz Mutigen. Die Zunge schwillt am Tag nach dem Stechen an wie ein Ballon. Wenn das überstanden ist, kann man das Klackern der Stecker beim Kuß genießen.

Eigentlich gibt es keine Körperteile mehr, die nicht durchbohrt oder durchstochen werden. Die Brustwarzen, der Bauchnabel und der gesamte Genitalbereich werden mit Intimschmuck verschönt. „Prinz Albert“ nennt man beispielsweise den Ring, der durch die männliche Eichel gezogen wird – eine Erfindung aus viktorianischen Zeiten, wo er als „dressing ring“ in den damals knallengen Hosen das männliche Genital schützen mußte, indem es in das linke oder rechte Hosenbein gezurrt wurde – beim Reiten zum Beispiel. Namensgeber Prinz Albert trug den Ring angeblich, um seine Vorhaut zurückzuziehen und sein Genital reinlich zu halten – alles im Dienste der Queen...

Heutzutage dient der Körperschmuck hauptsächlich sexueller Stimulation und Zierzwecken. Wer schön sein will, muß bekanntlich leiden. Zu den Schmerzen der Durchbohrung mit einer Kanüle kommt dann noch die Zeit der Wundheilung, Entzündungen und Vereiterungen sind im Preis inbegriffen. Der Bauchnabelring ist im Zeitalter der Jeans nun einmal ungünstig positioniert und wird per Reibung am Hosenbund in jedem Falle dafür sorgen, daß man das neuerworbene, kostbare Kleinod nie vergißt...

Es gibt natürlich auch Leute, die gerade deshalb am Piercen Gefallen finden, und das nicht erst seit gestern. Bei Seemännern sind Beringungen am Körper eine alte Tradition. Das wochenlange Leben ohne Sexualpartner fördert die Beschäftigung mit dem eigenen Körper, und, ebenso wie das Tätowieren, ist das Durchbohren von Körperteilen eine schmerzhaft- lustvolle Form von Autoerotik.

In den zwanziger Jahren tauchten im Fleisch verankerte Ringe dann im öffentlichen Großstadtleben auf – als Erkennungszeichen von Freaks und Außenseitern der Gesellschaft. Heutzutage gelten die Stecker und Steinchen in diversen Körperteilen schlicht als schick. Von Selbstdurchbohrungen kann allerdings nur abgeraten werden. Um Gewebezerstörungen zu vermeiden, sollte man diesen Part anerkannten Piercern überlassen.

Das macht das schmerzhafte Vergnügen zudem noch kostspielig: 85 Mark kostet ein drittes Nasenloch, 150 Mark muß man beispielsweise für einen Anfangsbauchnabelring aus Stahl rechnen. Faustregel ist: Je intimer und delikater der Körperteil, desto teurer seine Durchbohrung.

Dennoch: Das Piercen kann sogar zur Sucht werden. Georg Schulzke, der seit 20 Jahren ein Tätowier- und Piercingstudio in Berlin-Neukölln betreibt, berichtet beispielsweise von Ehepaaren, die sich mehr und mehr beringen lassen. Viele fänden auf diese Weise neue Ausdrucksformen der Sexualität. Es gibt sogar „Piercing-Fans“, die sich bestrafen wollen und dafür lieber selbst Hand anlegen. Diese Form der Selbstkasteiung ist aber eher selten.

Die Mehrzahl der 15- bis 20jährigen Körperschmuckträger eifert wohl eher ihren Idolen aus der Rock- und Popwelt nach: Bei „Faith no More“ trägt man Metall in der Augenbraue, und das MTV- Videoclip der Metalband Aerosmith mit einem Bauchnabelring in Nahaufnahme läßt die Fans scharenweise in die Piercing-Studios strömen. Auch Axl Rose von Guns N'Roses ist Träger eines Brustrings. Beim Punk macht er jetzt auch musikalische Anleihen: Das angekündigte Album wird ausschließlich Punk-Cover-Versionen enthalten.

Ob nun Heavy-metal-Attitüde, Punk-Leihgabe oder der Griff in die Ethno-Schublade: Filmisch ästhetisiert werden extreme Moden blitzschnell zum Mainstream. MTV heißt das Zauberwort, das die Abseitigen zu Helden macht, die dann flink von der Masse kopiert werden. In Videoclips wird derzeit die Geschichte einer Jugendkultur digitalisiert. Original und Zitat sind schon nicht mehr auseinanderzuhalten, und man muß sich beeilen, einen Kick zu finden, der alles bisher Gesehene übertrifft. Der allerneueste Trend kommt jedenfalls aus New York. Die Haut wird durch Säure verätzt oder durch Hitze verbrannt und der Körper mit den so entstandenen Brandnarben in dekorativer Anordnung „verschönt“. Ob nun bestechend oder ätzend, man reagiert mit Zicken und Hautunreinheiten. Und das nun im allseits propagierten „Jahrzehnt der Reinheit“, wie die Neunziger im Gegensatz zu den exzessiven vorangegangenen Dekaden gern gedeutet werden. Aber vielleicht verheilen die Wunden schon wieder im Edel- Büßerinnen-Gewand...