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„Es geht um ihren Kopf“

Bislang größtes „Schlepperverfahren“ vor Gericht / Bei Abschiebung nach Sri Lanka drohen den Tamilen Gefängnis, Folter und Tod  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Das ist ja ungeheuerlich.“ Richterin Rosemarie Sorg ist empört. Da hat es die 22jährige Deepa Prasadani F. aus Sri Lanka doch gewagt, nicht nur zu spät vor dem hohen deutschen Gericht in Nürnberg zu erscheinen, sondern auch noch ihren zweijährigen Sohn Michel mitzubringen. Die zierliche Deepa F. lächelt hilflos. Sie versteht kein Wort Deutsch. „Das ist nicht so lustig, wie Sie denken“, zetert die Vorsitzende der Staatsschutzkammer am Landgericht weiter.

Nachdem endlich eine Betreuung für das Kind organisiert ist, geht es weiter in dem Verfahren, das sich seit knapp zwei Monaten vor dem Landgericht dahinschleppt. Neun Tamilen, acht Männer und die junge Mutter Deepa F., sind angeklagt, Gründer, Mitglieder und Unterstützer einer internationalen Schleuserbande zu sein. Mindestens zweitausend Tamilen sollen sie via Singapur, Moskau, Prag über die „grüne Grenze“ illegal nach Deutschland geholt haben; die meisten wurden nach Kanada, Frankreich und in die Schweiz weitergeschleust. In der Anklageschrift steht, zwischen 10.000 und 13.000 Mark hätten sie pro Person dafür abkassiert. Für die Bild-Zeitung sind die „neun Dunkelhäutigen die größten Asylbetrüger Deutschlands“. Sollten die Vorwürfe zutreffen, stünde damit eine der größten „Schleuserbanden“ vor Gericht. Der Prozeß wird als Musterbeispiel für die vielzitierte Organisierte Kriminalität angesehen, besonders weil es um illegal ins Land geholte AusländerInnen geht.

In den vergangenen Jahren wurden die Strafen für derartige Delikte kontinuierlich nach oben geschraubt. Von jetzt fünf Jahren soll die Höchststrafe mit dem „Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994“ auf zehn Jahre angehoben werden, das im Januar im Bundestag zur Verabschiedung ansteht. Im Entwurf heißt es dazu noch, es solle geprüft werden, „ob zur Ermittlung solcher Täter auch das Abhören von Telefonen eine geeignete Maßnahme“ sei.

Allein deshalb ist das Verfahren vor dem Landgericht Nürnberg ein Pilotverfahren. Die Auswertung abgehörter Telefongespräche bildete die Basis der Verhandlung, angeklagt wurde wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) und Beihilfe zur illegalen Einreise. Ermittelt wurde, nachdem die Polizei in der Umgebung von Nürnberg mehrmals Tamilen aus Sri Lanka aufgegriffen hatte. Die tschechischen Fahrer, welche die Flüchtlinge nach Nürnberg gebracht hatten, wurden bereits zu Bewährungsstrafen wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt und abgeschoben.

Ein Hinweis aus der Bevölkerung brachte die Polizei auf die Spur des 19jährigen Thuraisingam S. aus Sri Lanka. Er erzählte den Ermittlern, wie die Schlepper arbeiten. Der 28jährige Thambimuthu P. leitete das Nürnberger Büro. In Paris residierte der Kopf der Organisation, der 33jährige Mahendran S., verheiratet mit der Mitangeklagten Deepa F. Thurainsingam S. sagte der Polizei, daß mehr als 2.000 Menschen aus Sri Lanka nach Deutschland geschleust wurden, dies habe er von dem Nürnberger Organisationsleiter erfahren. Noch vor Gericht bekräftigte er, er wolle auch nach dem Prozeß mit der Polizei zusammenarbeiten. Zwar sitzt er mit auf der Anklagebank, jedoch im Gegensatz zu seinen Mitangeklagten verbrachte er keinen Tag in Untersuchungshaft. Spitzellohn?

Die Nürnberger Kriminalpolizei witterte einen großen Fall. Ohne Zögern genehmigte der Ermittlungsrichter die Telefonüberwachung für Thambimuthu P.s Anschluß. Bereits das dritte aufgezeichnete Gespräch habe sich auf eine „Schleusung“ bezogen, notierte der mit den Ermittlungen beauftragte Kripomann Kunzmann.

Als Mahendran S. und Deepa F. am 2. September 1992 aus Paris anreisten, um sich mit P. zu treffen, schlug die Polizei zu. Aber erst im Juni dieses Jahres vermeldete Nürnbergs Polizeichef Peter von der Grün den „empfindlichen Schlag gegen das organisierte Verbrechen“ der Presse. Im Zuge der Ermittlungen wurden auch die Geldkonten der Verdächtigten untersucht. Doch die Schleppergelder – geschätzte 15 Millionen Mark – fand man nicht. Die Polizei versuchte, die Geschleusten ausfindig zu machen und zu befragen – ergebnislos. Die Zahl von zweitausend Geschleusten in der Anklageschrift entbehrt jeglicher beweiskräftiger Grundlagen. Ohne Ergebnis verlief auch die Fahndung nach den Kontaktleuten in Moskau und Prag. Ebensowenig wie die deutsche Polizei an den Vater von Mahendran S. in Colombo herankam. Er soll nämlich die Reisen organisiert haben.

Mahendran S., der laut Staatsanwaltschaft „die Fäden des gesamten Netzes seiner Organisation in den Händen gehalten“ habe, schweigt vor Gericht. Der heute 33jährige war im Juli 1990 in Frankreich als politischer Flüchtling anerkannt worden. Zuvor hatte der diplomierte Techniker in Colombo Unterkünfte für die tamilische Guerilla-Organisation „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (L.T.T.E.) besorgt, wurde festgenommen und gefoltert. Durch Bestechung kam er frei, mit Hilfe seines Vaters flüchtete er via Moskau, Prag, Deutschland nach Frankreich. Über seinen Vater holte er auch seine Frau Deepa F. von Colombo nach Paris. Laut Anklage soll er die Organisation zusammen mit teilweise bereits wegen Schleusungsdelikten vorbestraften und mit einer ausländerrechtlichen Duldung in Deutschland ausgestatteten Tamilen gegründet haben.

Zunächst räumte Mahendran S. die Existenz einer Schleuserorganisation ein. „Wenn du redest, kommen Frau und Kind frei“, sollen ihm die Ermittlungsbehörden dafür versprochen haben. Aber Deepa F., die mutmaßliche Kassenwartin der Organisation, wurde ebenfalls inhaftiert, der Säugling in eine Pflegefamilie gegeben. Zwei Monate später widerrief S. die zuvor gemachten Angaben.

Thambimuthu P., angeblicher Deutschland-Chef, gestand ein, Tamilen bei der illegalen Einreise nach Deutschland und der Weiterreise ins Ausland geholfen zu haben. In den Verhören gab er die Existenz der Schlepperorganisation zu. Vor Gericht schweigt auch er. Andere Beschuldigte gaben die Schleusung von Tamilen zu, betonten jedoch, nicht für eine Organisation gerabeitet zu haben. Jeder habe statt dessen auf seine eigene Rechnung gearbeitet und jeweils „seine Personen“ aus Sri Lanka herausgeholt.

Bei den meisten der rund fünfhundert abgehörten Telefonate geht es um Abrechnungsmodalitäten. Wer wem etwas geschuldet habe, wessen Leute angekommen und wessen Leute zu holen wären. Kein Wort allerdings von einer gemeinsamen Kasse, einem wesentlichen Kriterium für den Tatbestand des Paragraphen 129. Dieses Manko irritiert die Ermittlungsbehörden nicht. Die Unterscheidung, wer wen aus Sri Lanka geholt habe, könne, so heißt es im Abschlußbericht der Kripo, „nicht respektiert werden, da sich das Verfahren gegen die Organisation in ihrer Gesamtheit richtet“. Die Staatsanwaltschaft stimmt dem zu. Schließlich sind ja bereits die tschechischen Fahrer rechtskräftig wegen Paragraph 129 verurteilt worden.

Richterin Sorg gerät in Kalamitäten. Sie hatte sich auf Geständnisse und ein schnelles Verfahren eingestellt. Nun hüllen sich Teile der Angeklagten in Schweigen. Hinzu kommt der Ärger mit den Dolmetschern. Der Übersetzer der meisten abgehörten Telefonate, Anton M., schied bereits am ersten Prozeßtag aus. Die Angeklagten hatten lautstark protestiert, M. sei nur des indischen Tamil-Dialekts mächtig, nicht aber ihres Jaffna-Dialekts. Was etwa denselben Unterschied wie zwischen Friesisch und Bayerisch macht. Die Verteidigung bemängelt die enge Freundschaft zwischen Dolmetscher und dem Kripobeamten Kunzmann. Hinzu kommen fehler- und lückenhafte Übersetzungen. Nahezu an jedem Verhandlungstag stellen die Rechtsanwälte Anträge auf Neuübersetzung der Gespräche: die tausend Seiten könne man „in den Mülleimer werfen“. Immer wieder schmettert die Vorsitzende Richterin die Anträge ab – nicht ohne zuvor den Verteidigern lautstark zu unterstellen, sie wollten sowieso nur den Prozeß verzögern.

Beschwert sich zudem einer der Angeklagten über mangelhafte Übersetzungen, rastet Richterin Sorg völlig aus. „Ich gedenke nicht, über jeden Satz mit jedem Angeklagten noch einmal zu diskutieren“, herrscht sie den Betreffenden an.

„Nehmen Sie es doch ernst, wenn er was nicht versteht, es geht ja um seinen Kopf, um sein Schicksal“, entgegnete ihr Rechtsanwalt Ophoff. Richterin Sorg aufbrausend: „Kopf? Das ist ja doch sehr dramatisierend.“ Daraufhin schaltete sich Rechtsanwalt Comtesse ein: „Die zu erwartende Freiheitsstrafe ist nicht das Entscheidende. Es geht um die Abschiebung und was sie dann in der Heimat erwartet.“ Abschiebung sei Sache der Ausländerbehörden und nicht die ihre, beendete die Kammervorsitzende den Disput. Sie müßte wissen, daß die Zustände in Sri Lanka furchterregend sind.

Der seit über zehn Jahren herrschende offene Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Minderheit wird mit äußerster Brutalität geführt. Willkürlich inhaftierte Tamilen verschwinden, werden gefoltert und getötet. Amnesty international berichtet, daß vor allem männliche Tamilen im Alter zwischen 16 und 36 Jahren systematisch verfolgt werden, weil sie automatisch als Unterstützer der L.T.T.E. angesehen würden.

In Frankreich wurden deshalb 1991 siebzig Prozent der tamilischen Asylbewerber aus Sri Lanka anerkannt, in Deutschland jedoch nur vier Prozent. Oft fiel die Ablehnungsbegründung äußerst zynisch aus. So urteilte das Oberlandesgericht in Nordrhein-Westfalen im März 1991, daß Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung sei, daß er die effektive Gebietsgewalt im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit innehabe. „Daran fehlt es, wenn der Staat im umkämpften Gebiet nur mehr als Bürgerkriegspartei in Erscheinung tritt.“

Selbst im Abschlußbericht der Kriminalpolizei ist vermerkt, daß ausreisewillige Tamilen keine Chance haben, legal nach Deutschland zu kommen. Sie sind also auf sogenannte Schleuser angewiesen. Könne man dann, so fragt sich Rechtsanwalt Ophoff, den Schleusern „jegliche humanitären Beweggründe“ absprechen, wie es die Staatsanwaltschaft tue. Ophoff sieht Parallelen zu den Fluchthilfeorganisationen, die während der NS-Zeit Juden illegal aus Deutschland herausgebracht haben. Und was sei mit den deutsch-deutschen Fluchthelfern? Könne man überhaupt von einer Beihilfe zur illegalen Einreise sprechen, fragt sich Ophoff weiter, wenn die illegale Einreise an sich nicht verfolgt werde. Sie sei ja zum Zweck der Asylgewährung unternommen worden, die Mehrzahl der Geschleusten werde ja, zumindest in Frankreich, als politische Flüchtlinge anerkannt.

Richterin Sorg will von derlei Fragen nichts wissen. Sie klammert sich an die Vernehmungsprotokolle und die abgehörten Telefonate. Wenn es darauf ankommt, vermittelt sie den Verteidigern auch sehr lautstark, daß sie in diesem Pilotverfahren zu den christlich-sozialen Wahlkampfschlagern „Organisierte Kriminalität“ und „Überfremdung“ letztendlich wohl doch nur Statisten sind.

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