■ Nebensachen aus Washington
: Mark Welsh und Gott

Viermal werden wir noch wach und so weiter und so weiter. Meine Telefongesellschaft hat schon angerufen, um mir frohe Weihnachten zu wünschen und 15 Dollar von der nächsten Rechnung zu erlassen. Mein Sportstudio wünscht allen Bodysculptors (Körperbildhauern) ein frohes Fest und verspricht einen discount für das nächste geworbene Mitglied – und meine Freundin Clarice erwägt, ihren Bonsai mit Weihnachtskügelchen zu dekorieren.

„Ein Akt säkularer Sentimentalität“, sagt sie. Was heißen soll: Irgendwie findet sie Weihnachten ganz schön, aber sie glaubt nicht an die christliche Darstellung der Ereignisse vor 1993 Jahren. Sie hat eine Vorliebe für außerirdische, aber eine ausgeprägte Abneigung gegen überirdische Wesen und solche Mitmenschen, die ihr deren Existenz weismachen wollen. Das alles muß man wissen, um zu verstehen, warum sie mich unlängst überreden wollte, mit ihr die „Association for Agnostic Boy Scouts“, zu deutsch: die Vereinigung agnostischer Pfadfinder zu gründen.

Die „Boy Scouts“ sind eine Institution, die aus dem amerikanischen Leben ebensowenig wegzudenken ist wie der drive- in. Nur darf der letztgenannte auch von Frauen, Schwulen und AgnostikerInnen frequentiert werden. Die Boy Scouts aber verweigern, wie der Name schon sagt, Mädchen den Zu- oder Beitritt. Und Homosexualität ist nach ihrer Auffassung mit dem Leben eines Pfadfinders ebensowenig zu vereinbaren wie Atheismus. Das führte unlängst zu einem Aufschrei an unserem Frühstückstisch, als Clarice in der Zeitung vom Schicksal des Mark Welsh las. Der Steppke aus Chicago, heute zehn Jahre alt, war vor drei Jahren den Boy Scouts beigetreten, „weil's da 'ne Menge Spaß gibt“. Doch der Spaß hörte gleich wieder auf, als Klein Mark sich als Agnostiker zu erkennen gab und deswegen nicht schwören wollte, Gott zu lieben, was alle Jungpfadfinder tun müssen. Ich konnte die Empörung von Clarice schon verstehen, obwohl ich etwas Schwierigkeiten hatte, mir die Situation bildlich vorzustellen. Da schwören ein paar Siebenjährige in kurzen Hosen und Halstuch ihren Eid auf Gott und Vaterland – und plötzlich mault einer: „Laßt mich bloß mit eurem Voodoo in Ruhe. Ich bin Agnostiker.“

Wie auch immer, Klein-Mark war von der Kompatibilität des Agnostizismus mit dem Pfadfindertum so überzeugt, daß er samt Vater und Rechtsanwalt bis vor den Obersten Gerichtshof zog – wo er leider verlor. Die Boy Scouts bleiben bis auf weiteres männlich, hetero und gottgläubig, weil sie nämlich nach Auffassung des Gerichts ein „privater Club sind und deshalb ausschließen können, wenn sie wollen“.

Klein Mark kann sich immerhin damit trösten, daß ihn in der Schule niemand zum Beten zwingen darf. „Staat und Kirche sind getrennt“, steht in der Verfassung. „Gebetet wird zu Hause, in der Moschee, Synagoge oder Kirche, aber nicht im Klassenzimmer“, entschied besagter Gerichtshof 1962.

Dagegen laufen Gläubige aller Konfessionen immer wieder Sturm, aber zur großen Zufriedenheit meiner Freundin zeigt sich die Justiz konsequent. Aus Angst vor einer Gerichtsklage hat jetzt der Direktor einer staatlichen Schule in einer Suburb von Washington den JungredakteurInnen seiner Schülerzeitung verboten, in ihrer Weihnachtsausgabe das Wort „Weihnachten“ wegen seiner zweifellos christlichen Konnotation zu verwenden. Ich finde, daß solche Maßnahmen über die löblichen Ziele der Säkularisierung hinausschießen, Clarice, die in dieser Hinsicht etwas fanatisch ist, findet das völlig in Ordnung. Dann hat sie mir begeistert von einer Grundschule im US-Bundesstaat Nebraska erzählt, die nach ihrer Ansicht den Bewußtseinsstand der ultimativen Säkularisierung erreicht hat: Die LehrerInnen haben bei der allweihnachtlichen Theateraufführung die Rolle des Weihnachtsmanns auf seinem Schlitten durch ein Geschenke verteilendes Marsmännchen namens Leon in einem glitzernden Raumschiff ersetzt. Ich sag's ja: Sie glaubt an Außerirdische. Dabei haben sie in Nebraska die christliche Botschaft doch ganz subversiv verkündet: Leon heißt rückwärts gelesen Noel, zu deutsch: Weihnacht. Andrea Böhm