Die beste Schwerelosigkeit

■ Der Fallturm feiert Jubiläum: 1.000 Abwürfe, 4740 Sekunden ohne Erdanziehung

„Von 0 auf 100 in sechs Sekunden“ – beim Autoquartett wäre diese Beschleunigung nahezu unschlagbar. Lächerlich für die Fallobjekte im Bremer Fallturm: die bringen es es in 4,74 Sekunden auf 170 Stundenkilometer.

Exakt 4740 schwerelose Sekunden konnten in der weithin sichtbaren Röhre auf dem Unigelände bislang zu Forschungszwecken erzeugt werden – und Sekunde 4735,26 bis Sekunde 4740 wurden gestern mit besonderem Stolz beobachtet. Denn der Fallturm feierte Jubiläum: nach zweieinhalb Jahren Betrieb wurde der 1.000 Forschungsflug gestartet.

In aller Behäbigkeit dauert es sechs Minuten, bis die Experimentierkapsel bis unter die Decke in 120 Metern Höhe gezogen wird. Doch nicht der Gipfel, sondern der Fall ist das Ziel: 4,74 Sekunden später rauscht die rund 250 Kilogramm schwere Kapsel in ein Meer aus Styroporkügelchen; rund eineinhalb Tonnen davon reichen, um dem Flug in die Tiefe ein weiches Ende zu bereiten.

Auf diese 4,74 Sekunden haben es die WissenschaftlerInnen abgesehen: Denn im Inneren des Flugkörpers wird dabei im künstlich erzeugten Vakuum der Fallröhre die Schwerkraft ausgeschaltet. Ein Umstand, den Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie herausfand und der heute die Forschung in der Schwerelosigkeit – oder in der „kompensierten Gravitation“, wie es der Leiter des „Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation“ (ZARM), Prof. Hans Rath, lieber hört – auch auf der Erde ermöglicht. Seit Mitte 1991 macht das ZARM den teuren Experimenten im Weltraum Konkurrenz, rund 2.500 Experimente haben stattgefunden. Und die Zukunft ist erstmal gesichert: Gestern buchte die „Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten“ (DARA) weitere 840 Flüge für die nächsten drei Jahre. Der 4,7-Millionen-Auftrag umfaßt Forschungsaufträge deutscher Hochschulen und Universitäten. Aber auch das Interesse aus dem Ausland nimmt zu, zumal es zum Bremer Fallturm nur eine Konkurrenz gibt: In Japan wird ein 700 Meter tiefer, ehemaliger Kohleschacht für Fallversuche genutzt. Dort beträgt die Fallzeit bereits 10 Sekunden – auf den letzten 200 Metern wird gebremst. Dennoch fühlt sich Prof. Hans Rath im Vorteil: „Wir haben in Bremen die weltweit höchste Qualität der Schwerelosigkeit.“ Nur ein Millionstel der normalen Gravitation seien in den Kapseln zu messen – „das ist besser als in einem Raumlabor“, so Rath.

In Bremen sausen von Dienstag bis Freitag mehrmals täglich Experimentierkapseln in die Tiefe. In ihrem Inneren bergen sie Versuchsanordnungen, die zum Beispiel den Verbrennungsvorgang von Kraftstoff oder die Wärmeleitfähigkeit von Stoffen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit messen sollen. Beim Jubiläumsflug wurde z.B. die Verbrennung eines Dieseltropfens von knapp einem Millimeter Durchmesser geprüft. Während des kurzen Falls aus dem 50. Stock können 40 Meßwerte bis zu 40.000 mal aufgezeichnet werden, spezielle Kameras liefern bis zu 20.000 Farbbilder von dem Ereignis.

In Zusammenarbeit mit dem Bremer Raumfahrtunternehmen ERNO konnte hier zum Beispiel ein neuer Treibstofftank für Satelliten entwickelt werden, da man im Fallturm die Frage klären konnte, wie in der Schwerelosigkeit in einem halbleeren Tank der Treibstoff zum Ausgangsventil gelangen kann.

Allerdings sind nur 10 Prozent der Experimente an die Raumfahrt gebunden; 90 Prozent der Forschung bezieht sich auf grundlegende physikalische Phänomene, die ohne den „störenden“ Einfluß der Gravitation genauer beobachtet werden können.

In einem Gemeinschaftsprojekt mit Japan wird der Schwerpunkt bei der Verbrennungsforschung liegen – mit dem Ziel, bei der Verbrennung von Treibstoffen den Energieverbrauch um 10% und die Umweltbelastung um 20% zu senken. Doch die ZARM hat mit ihren Fallturm noch viel tollkühnere Pläne: Um die „Fall“zeit um das Doppelte zu verlängern, sollen die Kapseln in Zukunft auch nach oben katapultiert werden – per Hydraulik, Druckluft oder mit Gummibändern. „Technisch ist das machbar und liegt bei uns bereits in der Schublade“, so Hans Rath.

skai