Halbwach-Gefühl

■ "Rocket Babydolls" - Ein Fernsehdebüt um 23 Uhr, ZDF

Sie lutscht Daumen und masturbiert zwischen großen Teddybären. Und sie hat einen Traum: „Alle werden in eine Kiste gesperrt, und ihre Köpfe verwandeln sich in Wolfsschädel. Dann fressen sie sich gegenseitig bei lebendigem Leibe“. An die Wände sind Herzen gemalt. Die Szenerie, von einer Spieluhr untermalt, strahlt kindliche Unschuld aus.

Von der ersten Szene an nimmt Christopher Andersons Debüt „Rocket Babydolls“ einen in den Bann. Obwohl die hart konturierten Schwarzweißbilder alles andere als erzählfreundlich gestaffelt sind. Eine Geschichte wird nicht direkt erzählt. Momentaufnahmen, Stimmungen und Visualisierungen innerer Bilder fügen sich zur Vision eines seelischen Metropolis. Das Ganze spielt in einer ewigen, neon-diffusen B-Ebene, in einem endlosen Autotunnel. Am Straßenrand stehen diese ganz normalen Irren, die von Gott faseln oder wie Feuerschlucker vorbeifahrende Autos ankokeln.

Als hätte sie permanent vacation, streicht die Japanerin Aka durch Gänge und Hallen an Schaufenstern vorbei. Es gibt Menschen, doch gewinnt man nicht den Eindruck, das Ambiente wäre für sie erbaut. Aka arbeitet in einer Art Kinderbordell. Sie bläst einem alten lederhäutigen Freier einen und putzt sich hinterher die Zähne.

Der Film setzt bewußt keine dramaturgischen Akzente. Was geschieht, geschieht eben. Dokumentarische Geduldigkeit fügt sich in rauh montierten Bildfolgen. Es entsteht jenes vexierhafte Halbwach-Gefühl, das einen ereilt, nachdem man sich nachts übergeben und deswegen zuwenig geschlafen hat und nach dem Erwachen der festen Überzeugung ist, in dieser monochrom grauen Welt niemals wieder richtig wach sein zu können. Auf gut soziologisch: the Entfremdung.

Die Kernszene spielt wieder in Akas (Kinder)Zimmer. Sie hat einen gorillagroßen Typen getroffen, der ihr mit tapsigen Schritten folgt: Cyrus, dargestellt von Regisseur Christopher Anderson selbst. Erst macht er ihr den Affen, und dann machen sie es. Die beiden treiben es so süß miteinander, als hätten sie den Sex erfunden. Sogar der Papst hätte gegen diese drollige Sex-Szene nichts einzuwenden: In reduktiver Reinheit stellt uns der Film die Figuren vor als Adam und Eva. Auf dem Weg zurück ins Paradies. Es gibt nur zwei Probleme: ihr großer Teddy paßt nicht in den Koffer, und der Autotunnel, durch den sie dann fahren, hat kein Ende ...

Christopher Anderson ist 1968 geboren, zur Zeit des Vietnamkriegs. Dessen Bilder von Bomben und Bombern bedeuten für ihn nichts. Deswegen erscheinen sie in seinem Film überall, im Schlaf, in einer Disco – als Videotapete: Es ist nicht seine Welt, aber er lebt in ihr, als Vertriebener. In der Perspektive jener kindlichen Unschuld, die der Film vermittels der Alles-Fuck-Ästhetik des Sex- Trash-Movies beschwört, ist es tatsächlich nur ein Traum, daß die Menschen sich bei lebendigem Leibe auffressen. Trotzdem ist der Film keinen Fußbreit eskapistisch.

Zwar sind wir vom „Kleinen Fernsehspiel“ Exzeptionelles gewohnt. Doch gerade in einer Zeit, in der das FSK-Fernsehen gegründet wird, damit linke und rechte sich in ästhetischer Prüderie verbrüdern, ist mit diesem Film ein weiteres Tor aufgestoßen. Es ist anscheinend noch etwas machbar. Nicht ganz Gallien ist von den römischen Sex- und Gewaltdarstellungs-Zensoren besetzt. Und solange der Druide Miraculix den Zaubertrank in Form von Grimme-Preisen braut, gibt es weiterhin solche Filme. Manfred Riepe