Als Schirinowski noch ein Jude war...

Die Jüdische Gemeinde Moskaus nimmt den Wahlsieg der faschistischen „Liberaldemokraten“ eher gelassen auf / Vor 1990 leitete Schirinowski die Gesellschaft „Schalom“  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Die Jüdische Hochschule...? Das hier ist die Moskauer staatliche Universität!“ antwortet die Sekretärin, ohne ihren empörten Subton zu kaschieren. Jedoch auf dem gleichen Stockwerk nur einige Zimmer weiter sitzt die Jüdische Universität tatsächlich. Zugegeben, noch nicht sehr lange. In dem riesigen Gebäude der journalistischen Fakultät im Herzen Moskaus nahm kaum jemand Notiz davon. Anonymer akademischer Massenbetrieb würden wir sagen. An diesem Tag bleibt die „kleine Anstalt“ geschlossen. Ungelenk gepinselte Plakate in Russisch und ein bißchen Hebräisch laden die Studenten zu einer Feier ein.

Im Foyer knirscht der Schneematsch unter den Sohlen. Die Studenten rauschen ins Wochenende mit Betriebsamkeit. In der Ecke der überheizten Eingangshalle drückt sich noch ein lustloser Buchverkäufer rum. Sein Angebot kann sich aber sehen lassen. Zwischen Historie und Philosophie auch ein Bändchen von Witali Wassiljewitsch Schulgin: „Was uns an ihnen nicht gefällt...“ Eine Ausgabe aus dem Jahre 1992. Der Titel verspricht viel. „Über den Antisemitismus in Rußland“ mit einem Vorwort eines gewissen Doktor der Geschichte, Jurij Morosow, Mitglied der NRPR, der Nationalrepublikanischen Partei Rußlands. Der Verkäufer preist das Buch als ein „vorrevolutionäres Dokument“. Das stimmt nicht ganz, denn es wurde in den 20er Jahren veröffentlicht – aus der Emigration. Doch die NRPR gab es auch damals, Schulgin war ein einflußreicher Abgeordneter der Staatsduma – ein Monarchist. Morosow lobt die Schrift als „erstaunlich zeitgenössisch“. Sie zeige in lebendigen Beispielen, wie „der schimärenhafte Konstruktionsmechanismus des russischen Körpers mit einem jüdischen Kopf gebildet wurde“. Ein Versuch, die Berechtigung antisemitischer Ressentiments in Rußland „wissenschaftlich“ zu untermauern.

Dergleichen gab es in der Sowjetunion nicht. Damals wurde es nur gedacht, nicht geschrieben. Der greise Custos in der Synagoge in der Archipowa-Straße hat keine Angst. Die Wahlergebnisse Schirinowskis beunruhigen ihn nicht sonderlich. „Natürlich sind wir die ersten, auf die sie einschlagen.“ Antisemitismus habe es immer gegeben. Sein Bekannter stimmt ihm zu. Er fuchtelt mit seinem Gehstock: „Wenn sie kommen, werden wir uns bewaffnen.“ Er meint es ernst und lacht dabei.

Ein Milizionär kommt sich aufwärmen. Den Sabbat über steht er vor der Synagoge Wache. An die hundert streng Gläubige halten Gottesdienst im Hauptschiff. Alle tragen sie die weißen Gebetstücher mit schwarzen geometrischen Ornamenten und die kleine Kopfbedeckung. Die Männer bleiben unter sich. Nur drei Frauen sitzen – weit voneinander entfernt – auf der ihnen zugedachten Empore. Sie lauschen, nur eine betet mit. Während ein Rabbi aus der Thora rezitiert, lesen die einen Zeitung, die anderen, in einer Ecke über einen Tisch gebeugt, diskutieren. Auf dem Podest vor der Apsis absolviert ein junger Mann im kantigen Rhythmus seine Gebetsübungen. Dazwischen turnt der Sohn des Moskauer Hauptrabbiners Scharjewitsch, der sich auf der Kathedra des Moses, dem Ehrensessel niedergelassen hat.

Der Gastrabbiner aus den USA macht sich für seine Predigt bereit. Er lehnt sich an das Geländer mit dem Rücken zur Bema, dem Rednertisch. In Jiddisch spricht er über die Gefahren des „Nationalismus und Internationalismus“ – und darüber, daß letzterer dem Menschen nicht „in de Koppe gehe“.

„Unter Chruschtschow wollten sie die Synagoge mal abreißen, um Platz für die Metro zu schaffen“, erzählt der Custos. Die Amerikaner haben damals in den 60er Jahren Druck gemacht. „Deshalb steht sie noch.“ Den Annex der Synagoge gab Moskaus Stadtsowjet 1989 zurück. Unter Stalin diente er als Krankenhaus. Vorne links neben dem heiligen Bezirk hängen zwei Gebetstafeln. Russisch und Hebräisch. Die Zeit hat ihre Bleiche über sie gezogen. Jetzt stehen sie zum Verkauf frei: „For sale“, hängen zwei Schilder dran. Immerhin wurde die Regierung der UdSSR mit ins Gebet aufgenommen – in beiden Sprachen.

Schwer trägt der Rabbi an der Thorarolle. Er zieht an den Gläubigen vorbei, die die Thora küssen oder mit dem Gebetstuch berühren. Der einzige Moment, an dem eine gewisse Ordnung das „Anarchische“ verdrängt.

Der Beter, der mit ganzem Körper bei der Sache war, springt nach dem Gottesdienst sofort davon. Er ist jung, macht einen sehr gebildeten Eindruck. „Warten wir ab, was in den nächsten Monaten passiert. Noch ist alles ruhig.“ Werden jetzt mehr Juden emigrieren? „Anfangs ein paar mehr, aber nicht auf Dauer“, meint er gelangweilt. Nur der Höflichkeit halber gibt er Auskunft, dann ist er verschwunden.

In der Synagoge Agendas Chassidei Chabad, in der Bolschaja Bronnaja, treffen sich am Nachmittag die Frauen. Essensreste werden abgetragen. Der Rabbi stellt die Thoren zurück ins Regal. „Antisemitismus hat es in Rußland immer gegeben. Die Russen sind ein unglückliches Volk, aber noch lange keine Faschisten.“ Er erklärt die Wahl mit wirtschaftlicher Verunsicherung „und der Unerfahrenheit der Wähler, besonders in der Provinz“, wo man Toren noch eher Glauben schenke.

Pogrome haben Tradition in Rußland. Die herrschende Schicht, wenn es ihr in den Kram paßte, nutzte und verstärkte antijüdische Stimmungen, ungeachtet ihrer Couleur, Monarchen oder Kommunisten gleichermaßen. „Wenn es losgeht, dann ganz brutal“, sagt der Rabbi, aber er glaubt nicht dran. „Wichtig ist, daß man jetzt einen klaren Kopf behält. Man darf die Wähler nicht zu Faschisten stempeln.“ Behutsamkeit sei angesagt, indes nicht weniger Wachsamkeit. „Der Westen muß hart bleiben, er kann uns helfen.“ Der Rabbi kennt Schirinowski noch aus anderer Zeit. Als der selbsternannte „Erlöser“ Rußlands die jüdische Gesellschaft „Schalom“ leitete. „Er machte seine Sache gut, obwohl die Organisation vom KGB gesteuert war, um Loslösungstendenzen zu untergraben.“ Damals bezeichnete sich Schirinowski noch als Jude. Seine Nationalität wechselte er wohl erst mit der nächsten Aufgabe seines Dienstherren. Im Frühjahr 1990, als er mit Geldern des KGB seine Partei gründete. Und sich seitdem als „Sohn einer Russin und eines Juristen“ bezeichnet.

„Das gibt es bei uns aber nicht, den Feiertag nicht heiligen“, fährt eine Gläubige uns barsch an. Der Rabbi amüsiert sich anfangs, dann ergibt er sich dem Machtwort. „Kommen Sie an einem andern Tag wieder.“ Nicht einmal seinen komplizierten Namen durfte er aufschreiben...