"Alle vegetieren dahin"

■ Friedrichsstraße/Ost, kein Fall für Flaneure: Riesenbaustellen und Lärm im Drei-Schicht-Rhythmus haben noch die letzten Passanten verschreckt / Wenig Kunden, kaum Geschäfte

Das Schauspiel beginnt jeden Nachmittag um vier und endet am nächsten Morgen um neun. Die 17stündige Aufführung findet im Freien statt, und immer ist das Publikum begeistert. Spielort ist die Friedrichstraße/Ost. Dort, wo Europas größte Baugrube gähnt und Hundertschaften von Bauarbeitern in drei Schichten tonnenweise Beton vergießen, sind 13 hochhaushohe Baukräne über Berliner Traufhöhe gewachsen. Wenn es dunkelt, erfüllen die Kräne einen zweiten Sinn. Dann sind sie Weihnachtsbäume, gelb und aus Stahl. An jedem Kranhals hängen bis zu drei Weihnachtssterne aus Lampen, und auf der Horizontalen schaukeln Glühbirnenketten im Wind wie Lametta.

1995, geht alles nach Plan, werden an dieser Stelle die Friedrichstadtpassagen eröffnet: Boutiquen, Büros, Appartments à la carte, Cafés. Der Kaufhaustempel soll eine neue Zeitrechnung einläuten, der 300 Jahre alten Friedrichstraße wieder zu der Reputation verhelfen, die sie einst genoß. Noch ist nichts von Glanz und Glamour zu sehen. Irgend was boomt da rasend in die Zukunft, nur was, und wohin:?

Bagger reißen die Straße auf, Bürgersteige existieren nur temporär, Autos knäulen sich an ampelfreien Kreuzungen, Ruinen, in denen sich Häuser verbergen, verfaulen, als sei die Zeit stehengeblieben und als werde hier die Zeit noch jahrzehntelang angehalten. Die Friedrichstraße/Ost, ein aus Endzeit und Aufbruch, Aufbau und Verfall zusammengewürfeltes Niemandsdisneyland, total erschöpft und hoch erregt zugleich.

Ein genialer Trick, diese illuminierten Kräne. Er nimmt den 2.525 Schritten vom Oranienburger Tor bis zum Checkpoint Charlie ihre Grausamkeit, ihre Häßlichkeit. Ein wenig zumindest. Vielleicht suchen die Bauherren, die Geschäftsinhaber mit dem Lichtspektakel milder zu stimmen. Denn in welches Geschäft man auch geht: leise klagen alle über massig Lärm und wenig Kunden. Die Frage nach Umsätzen verbietet sich. Wer es doch tut, erntet ein vielsagendes: Das können Sie sich ja denken! Bei Mercedes-Benz lautet die leicht zu interpretierende Klage: „Was wir brauchen, ist ein langer Atem.“ Wer jetzt wegziehe, habe später das Nachsehen.

Die Edelboutique „Escada“, vis-à-vis dem Bauloch, wird ihre Fest- und Silvesterkollektion garantiert nicht los. Zwei Wochen bot man dort in den Schaufenstern einen Silvesterfummel feil – Seide und Taft in melonenorange für 3.950 Mark. Seit ein paar Tagen hat man den Viertausender wieder an die Kleiderstange verbannt. Es mag zwar Frauen geben, die Gefallen an dem Kleid haben. Aber sie finden den Weg nicht durchs Baustellenlabyrinth.

„Escada“ wollte letztes Jahr schon dichtmachen. Eine Kundin hat dort den Stellenwert einer kleinen Sensation. Doch die Münchener Konzernleitung macht mit ihren Dependancen in Hongkong, Beverly Hills und New York so gute Umsätze, daß sie das schwarze Schaf „Filiale Friedrichstraße“ durchschleppen wollen, bis Ruhe eingekehrt ist und die Hochfinanz flanieren kommt. Undine Kaufer, „Escada“-Geschäftsführerin in Berlin, leugnet erst, daß ihre Verkäuferinnen tagein, tagaus Däumchen und selbstvergessen in den eigenen Haaren drehen. Dann aber hat sie ein Einsehen: „Was erwarten Sie denn bei so einer Baustelle?“

Kunden bei „Uhren Christ“, ein paar Blöcke weiter, sind auch Mangelware. Ans Schaufenster sind rote Buchstaben gepappt, „Perlmut“, was Perlmutt heißen soll. Mit der Auslassung des „t“, sagt eine Angestellte, wolle man der Kundin „Mut zur Perle“ machen. Doch den scheuen die meisten. Die Filialenverkäuferinnen behandeln ihre Zufallspassanten wie Staatsgäste: Es sind so wenige. „Daß das dauert, wußten wir“, bescheidet schnöde die Konzernleitung in Hanau. Und: „Wir sind der Überzeugung, daß dies der richtige Standort ist. In einigen Jahren wird sich das bewahrheiten.“ Eine Verkäuferin flüstert ehrlicher: „Ich kann mir auch was Spannenderes vorstellen, als mir hier die Beine in den Bauch zu stehen.“

Uhren Christ mag solvent genug sein, um das goldene Zeitalter der Friedrichstraße/Ost abwarten zu können, auf das alle Investoren schwören.

Mutig auch „Türler“. Oder zuversichtlich. Der Schweizer Juwelier an der Ecke Unter den Linden offeriert erst seit wenigen Wochen Uhren, Broschen, Ringe und Diademe. Im Laden selbst ist keine Auslegware plaziert, nur in den Schaufenstern. Ab und an diskrete Preisembleme, und an den Schmuckstücken, die man sich im Normalfall eh nicht leisten kann, sind keine dran. Das Schweizer Diskretionsgebot gilt auch hier: Bedient werden wie bei Tiffany's und keine Antwort auf die Frage, woher der Mut kommt, ausgerechnet an Berlins komatösester Stelle zu siedeln. „Wir haben Geduld“, kommentiert der Verkäufer. Und Geld. Das sagt er nicht.

Anderen Läden fehlte das Großgeld, die astronomischen Mieten haben ihnen den Garaus gemacht. Die Quadratmeterpreise liegen auf Westniveau: bei 150, gemunkelt wird auch von 300 Mark.

„Egypt Air“ etwa hat schon bessere Zeiten erlebt. Drei Angestellte sitzen auf geschätzten 15 Quadratmetern vor ihren Terminals und blicken, ebenerdig, aufs Hotel Unter den Linden. Und sie sehen fast nichts anderes. Im Tagesschnitt, hat man gezählt, kommen sechseinhalb Kunden.

Viel mehr sind es auch nicht im proletarischen Teil der Friedrichstraße/Ost, dort, wo der Friedrichstadtpalast mit einem Programm lockt, das nur noch Drei-Tage-Berlin-Bus-Touristen anzieht. Die Auslastungsquote stagniert bei 60 Prozent. Über Fluktuation reden mag man auch nicht im schräg gegenüberliegenden Laden für „Internationale Graphic“. Denn international sind höchstens die Quadratmeterpreise. Geöffnet ist erst mittags, weil am Morgen gar keiner mehr kam, um die kunsthandwerklichen Bilder anzuschauen. Eine Straße, ziemlich tot, besonders nach Geschäftsschluß, hängt am Tropf. Die nächsten zehn Jahre noch, sagen die Miesmacher, nur noch zwei Jahre, glauben die Gutmeinenden. Claus Heuchemer, der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Friedrichstraße, hat von beiden etwas. Die Geschäfte „vegetieren alle dahin“, lautet sein Attest. Vollkommen blind und blauäugig habe aber niemand die Friedrichstraße zu seiner Visitenkarte gemacht: „Keiner hatte Illusionen. Alle wußten, was sie tun.“

Tatsächlich? Erst „in fünf Jahren“, schätzt selbst Heuchemer, „muß man nicht mehr in Gummistiefeln die Friedrichstraße entlangmarschieren“. Thorsten Schmitz