„Na und, werden wir davon satt?“

Vor genau vier Jahren stürzten die RumänInnen den Diktator Nicolae Ceaușescu. Revolution! Heute schauen viele ernüchtert auf ihr Land. Geschichten des Lebens in Bukarest  ■ Von Keno Verseck

Mircea Dinescu

Die Stadt versinkt im Dreck

Tagsüber treffen sich auf dem Bukarester Universitätsplatz die Verrückten. Eine Wand der Architekturfakultät ist noch beschmiert mit Parolen aus der Zeit, als die Bergarbeiter unter demonstrierenden Studenten Pogrome anrichteten. Ältere Männer bilden die Mehrzahl der Versammelten, doch sind auch einige junge Burschen mit ihren Freundinnen und biedere Aktentaschenträger darunter, die gewiß einen Arbeitsplatz und Familie haben.

An jedem anderen Ort sind die Verrückten verständige Menschen. Aber hier gestikulieren sie und schreien sich an, obwohl sie im Grunde alle derselben Ansicht sind. Sie schreien sich an wegen der verratenen rumänischen Revolution. Sie streiten darüber, daß die Revolution gar keine war. Sondern ein unvollendeter Umsturz der nationalkommunistischen Diktatur. Oder einfach nur der Sturz des Diktators am 22. Dezember 1989.

Die Passanten haben sich an den Tumult gewöhnt und gehen vorbei. Revolution. Die Leute zucken mit den Schultern. Wenn die Verrückten in der Dämmerung langsam auseinanderlaufen, steigen die zerlumpten Straßenkinder die Treppen aus der nur schwach beleuchteten Metrostation herauf und lassen sich auf den Stufen des Nationaltheaters nieder.

Frech und lustig sind sie, die Straßenkinder, haben rauhe Stimmen, singen beim Betteln in der U-Bahn Lieder wie am Grab eines Menschen. Rauchen, halten sich Klebstofftüten vor den Mund und können nicht richtig sprechen. Auf den Stufen des Theaters warten sie, bis das Publikum aus der Vorstellung kommt. Aber die Leute geben nicht mehr so gern, denn es ändert ja doch nichts. Die Straßenkinder werden mehr und mehr, auch die bettelnden Alten und die Krüppel, die ihre nackten Fußstümpfe auf den eiskalten Gehweg hinstrecken.

Die Leute gehen weiter. Es geht weiter. Abwärts. So ist es im Jahre vier der Revolution. Die Stadt versinkt im Dreck, im Schrott und Schlamm. Jede freie Fläche wird genutzt, um Schutt und Müll abzuladen. Die Bezirke können sich mit der Stadtreinigung nicht über den Preis der Müllabfuhr einigen. So fährt sie einmal in der Woche durch die Straßen. Oder auch nicht. Die Hälfte bleibt liegen, und ohne Bestechung wird keine einzige Tonne geleert. Es geht schon weiter. Es geht auch so – lautet eine rumänische Devise.

Es gibt alles zu kaufen. Das meiste davon ist für den täglichen Bedarf nicht zu gebrauchen. Die Metrostationen sind voll von türkischen Pantoffeln, griechischer Schokolade, iranischem Apfelshampoo (for export only), russischen Leberwurstkonserven mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und Cola. In privaten Läden gibt es Videorecorder und Brot, und von Zeit zu Zeit Bananen und Fleisch. Manche kaufen nur eine Banane und geben schweren Herzens einen Fünfhunderter hin. Die Alten wenden sich ab, wenn sie den freien Brotpreis sehen und stellen sich lieber eine Stunde in die Schlange vorm staatlichen Laden.

Im Milchladen, schräg gegenüber dem riesigen Palast des Diktators, steht schon lange keine Milch mehr. Die junge Angestellte schläft oder löst Kreuzworträtsel und macht sich nicht einmal die Mühe, Kunden zu begrüßen. Sie hat ja meist auch nichts zu verkaufen. Außer angeschimmelten Oliven zu einem horrenden Preis, Senf, Eiern und Schweinefett. Auf 30 Quadratmetern.

Tausende Studenten, Lastkraftwagenfahrer und Eisenbahnarbeiter haben in den letzten Monaten gestreikt, demonstriert und den Rücktritt der Regierung gefordert. Die Oppositionsparteien stellten den dritten Mißtrauensantrag. Er wurde zum dritten Mal niedergestimmt. Der Ministerpräsident war während der Debatte zumeist abwesend und erschien schließlich betrunken. Der Kulturminister, ein bekannter Dichter, las die Sex- Zeitschrift Prostitution. Und ein Abgeordneter drängte, endlich abzustimmen, da er sonst seinen Zug verpasse.

Nur einige Intellektuelle reden noch von Bürgerrechten und von Demokratie. Die meisten Leute finden, es sei noch viel schlechter geworden als unter dem Diktator. Wenigstens können sie das jetzt sagen. Na und, werden wir davon satt? fragen sie. Unter dem Diktator hatten alle Arbeit, alle Geld, und es gab nichts zu kaufen. Jetzt gibt es alles mögliche zu kaufen, und kaum einer hat Geld. Eine teuflische Logik.

Am einen Ende des fünf Kilometer langen „Boulevards des Sozialismus“, für den der Diktator ein Fünftel der Stadt niederreißen ließ, haben Mercedes, Alfa Romeo, Computerfirmen, Parfümerien und Boutiquen Filialen eröffnet. Ein paar hundert Meter weiter sind die Fassaden der kommunistischen Prachtbauten zusammengefallen und die Fenster eingeschlagen. Dahinter leben die Leute in halbfertigen Neubaublocks. In einer Welt aus Sand, Beton, Schutt und Pfützen. Eine alte Zigeunerin hat Feuer gemacht und zieht Kabel aus einem Müllhaufen. Sie verbrennt die Plastikisolierung. Kupfer- und Aluminiumkabel verkauft sie beim Schrotthändler. „Ich habe sechs Kinder, da drüben“, sagt sie und zeigt auf einen der halbfertigen Blocks. „Wir leben von unserer Hände Arbeit, wir sind ehrliche Leute, schreiben Sie das!“

Daniela wollte keine Sekretärin mehr sein

Daniela hat immer davon geträumt, ins Ausland zu reisen. Sie ist Mitte dreißig, geschieden und wohnt mit ihrem Kind und ihrer Mutter am Rand von Bukarest. In einem niedrigen, baufälligen Haus mit zwei winzigen Räumen und einer Küche. Es gibt kein fließendes Wasser, auf dem Hof steht als Toilette ein Bretterverschlag über einer Sickergrube.

Ihr Mann trank, und sie wollte keine Sekretärin mehr sein. Einmal, als sie einen neuen Freund hatte, kam ihr Mann nach Hause und verprügelte sie. Da waren sie schon geschieden. Sie kannte jemanden im Kulturministerium und fing dort als Sekretärin in der Minderheitenabteilung an. Die Mitarbeiter fuhren hin und wieder zu Seminaren ins Ausland. Sie wollte das auch und beschwerte sich, daß sie nicht ausgewählt wurde. Ihr Chef erwiderte, sie spreche nicht einmal eine Fremdsprache. Auch sonst hielt er wenig von ihr und schmiß sie raus. Sie war enttäuscht wegen der Auslandsreise, aber die Launen des Chefs, sagte sie, habe sie sowieso nicht ertragen können. Eine Freundin schlug ihr vor, nach Zypern zu fahren und dort zu arbeiten. Sie wisse da eine Gelegenheit in einer Bar. Daniela war mißtrauisch, aber dann ließ sie sich überreden.

Eigentlich wollte sie nach einigen Wochen zurückkommen. Statt dessen hat sie aus Zypern einen Brief an ihre Mutter geschickt. Sie müsse dort viel arbeiten, fast ihr gesamter Lohn werde für Kost und Logis berechnet. Die Besitzer hätten ihr den Paß abgenommen. Aus der Kleinstadt könne sie nicht weg, außerdem habe sie gar keine Zeit wegzufahren. Sie hat nicht geschrieben, daß sie dort zur Prostitution gezwungen wird. Die Mutter ahnt es. Aber sie ist alt. Und weiß auch nicht, was sie tun soll.

es stehn weit offen die gefängnistore

doch es ist keiner da, der gehen will

die einen hängen tot an ihren träumen

die anderen halten in den steinen still

Mihai will aus seinem Leben etwas machen. Er hat sich einen betont legeren Gang zugelegt und trägt nur Anzug mit Krawatte. Er bemüht sich, höflich zu sein, obwohl das viele Feuergeben auf Dauer zudringlich wirkt und sein Rasierwasser nicht das beste ist. Er kam vom Dorf nach Bukarest. Besuchte eine Schule für die Ausbildung von Privatdetektiven. Jemand hatte ihm davon erzählt. Das war nach der Revolution. Da wurden auf einmal überall die billigen amerikanischen Kriminalfilme gezeigt.

Die Lehrer auf der Detektivschule waren früher bei der Securitate. Mihai hat an den Kommunismus geglaubt. Er sagt, sie hätten es so in der Schule gelernt. Und jetzt? „Jeder war in der Partei. Plötzlich bricht alles zusammen. Dann stehst du ohne was da. Und außerdem, man kann sich ja ändern.“ Er liest aus dem Kaffeesatz und schwärmt von Deutschland. „Da arbeiten die Leute, ihnen geht es gut, da herrscht Ordnung. Hitler hat das schon ganz richtig gemacht. Uns Rumänen tanzen die Juden und Ungarn auf dem Kopf herum.“ Er holt seine halbamtliche Marke hervor und blickt triumphierend drein. Irgendwie berechtigt ihn die Marke, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Er hat ein Lächeln einstudiert, das ein bißchen mies und überlegen wirken soll. Wie im Krimi. Aber er sieht, wenn er das aufsetzt, hilflos und süßsauer aus. Es ist nicht nötig, ihn an irgend etwas erinnern zu wollen. „Eh“, droht er, „ich bin Detektiv.“ Und nach einer Pause: „Ich vergesse nie.“ Das „etwas“ läßt er weg. Vielleicht hat er das im Kino gesehen.

Er war Leibwächter eines Immobilienmaklers. Im Sommer flog er mit ihm nach Singapur, für sechs Monate. Seine erste Auslandsreise. Im Grunde freute er sich, aber er lächelte nur süßsauer. Nach zwei Wochen war er zurück. „Mein Chef hat mich schlecht behandelt.“ Mehr sagt er nicht und lächelt hilflos. Wahrscheinlich ist er rausgeflogen. „He“, sagt er, „ich kann Securitate-Akten beschaffen. Nenn mir die Namen, und ich beschaff' dir die Akten. Sachen, an die noch nie jemand gekommen ist. Ich kenne gewisse Leute. Sensationelle Dinger. Überleg mal, wieviel dir das wert ist.“

Er erledigt gerade ein paar kleine Jobs. Er schnüffelt Ehefrauen hinterher, wegen ihrer eifersüchtigen Männer. Er wollte mit 600 Dollar eine eigene Firma aufmachen. Was Größeres. Er hätte 80 Dollar bei der „Caritas“ in Klausenburg deponiert, wo jeder nach drei Monaten das Achtfache zurückbekam. Aber erst hatte er das Geld nicht, jetzt ist die „Caritas“ pleite.