■ Die Russen und ihre Politikerkaste nach den Wahlen: Das endlose Palaver
Ist das nun eigentlich eine Eigenheit der Kommunisten oder der Russen? Oder der Kommunisten in Rußland? Oder der Russen, die im kommunistischen System groß geworden sind? Beherrschen tun sie es beide – das Reden, das stundenlange, das endlose Reden. Leonid Breschnew vor dem xy- sten Parteitag der KPdSU. Arkadi Wolski vor den Journalisten im Nobelhotel Slawanskaja. Was der Bürgerunionsvorsitzende als Fünf- Minuten-Statement angekündigt hatte, dauerte eine halbe Stunde. Geredet hat er, gesagt hat er nicht viel. Wie so mancher in diesem Wahlkampf: Ein Journalist berichtete voll Begeisterung von den langen Statements, die er von Grigori Jawlinski, einem der aufsteigenden Sterne des Moskauer Polithimmels, erhalten habe. Doch als er sich schließlich daranmachte, die wesentlichen Aussagen des Interviews zusammenzufassen, verschwand die Begeisterung schnell. Denn er fand keine. Das Tonband verwandelte sich in Luftblasen.
Rußland hat ein demokratisch gewähltes Parlament und ist doch keine parlamentarische Demokratie. Rußland hat tausend verschiedene Parteien und doch keine einzige. Rußland hat eine Exekutive, eine Legislative und eine Jurisdiktion, doch die tatsächlichen Entscheidungen werden oft an ganz anderer Stelle getroffen. Nicht im Kreml und nicht im Weißen Haus. Sondern irgendwo im der Grauzone dazwischen. Bis heute, so weiß ein Gaidar-Vertrauter, weiß man nicht, wie das Wahlgesetz zustande gekommen ist. Bis heute, so gibt ein Präsidentenberater zu, weiß man nicht, warum die Presse die jetzt abgesegnete Variante der Verfassungsprojekte als die zukünftige Konstitution vorstellte. Entschieden hatten die zuständigen Politiker sich schließlich für eine ganz andere Version. Memorial-Vertreter Arseni Raginski sagt: „Es ist erschütternd. Aber es ist so.“ Ein Stückchen Realität der russischen Politik.
Gerade deshalb sollte man sie nicht allzu ernst nehmen. Jede Entscheidung kann schon morgen geändert werden. Jeder Politiker kann schon morgen einer anderen Partei angehören. Jede Partei schon morgen aufgelöst werden. Ein Beispiel von vielen: Oleg Rumjanzew, einst entschiedener Reformer, übte sich bald in nationalistischen Sprüchen, bald in sozialdemokratischen Theorien. Schließlich besetzte er gemeinsam mit Kommunisten und Faschisten das Weiße Haus. Jetzt hält er sich für einen Zentristen.
Viel von dem, was wir heute diskutieren, spielte in Rußland schon gestern keine Rolle mehr. Ein weiteres Beispiel: Als einige Parteien sich im Wahlkampf erlaubten, Jelzins Verfassung anzugreifen, kündigte der Präsident ein Verbot ihrer Werbespots an. Die Presse heulte auf, prognostizierte erneut einen Bruch der Meinungsfreiheit. Passiert ist jedoch nichts. Nicht das geringste. Die Zeiten der Kremlastrologie sind vorbei. Denn für die Taten der Kommunisten gab es wenigstens noch ein Schema der Interpretation, sie waren berechenbar. Die Demokraten sind es nicht.
Das trifft im übrigen auch auf die russische Außenpolitik zu. Natürlich gibt es für sie ein von unzähligen Wissenschaftlerpools ausgearbeitetes Konzept. Und dies ist keineswegs auf ein neues russisches Imperium gerichtet. Doch natürlich kommt es immer wieder zu spontanen Konzessionen an die innenpolitischen Gegner. Und die lassen dann durchaus an das Ziel einer Wiedererrichtung des Reiches glauben.
Zur Hochform laufen die russischen Politiker auf, wenn es gilt, Probleme zu benennen. Denn davon gibt es in Rußland viele. Oder auch nur eines: die Reformen. Begibt man sich jedoch auf die Suche nach Vorschlägen, wie all diese Probleme gelöst werden könnten, findet man stets die gleiche Formulierung: „Darüber wird bei uns intensiv diskutiert.“ Ganz genau wissen die Parteien nur, daß die Reformen nicht auf „Kosten der Bevölkerung“ gehen dürfen. Die Gegenfrage – „Auf wessen Kosten denn dann?“ – bleibt unbeantwortet. Oder wird erst gar nicht gestellt.
Überhaupt die Bevölkerung, das Volk, die Nation. Sie werden von allen und jedem vertreten. „Von nun an kenne ich nur noch Russen“, lautet die Devise. Als hätten sich nicht auch hier bereits unterschiedliche Interessen entwickelt. Doch selbst die Agrarier, eine Interessenpartei, wie man sie sich besser kaum vorstellen könnte, behaupten, die Stadt- und die Landbevölkerung gleichermaßen zu vertreten. Das Wahlbündnis „Frauen Rußlands“ will für alle Frauen sprechen, egal ob sie junge Unternehmerinnen oder Soldatengattinen sind.
Der Bevölkerung der Russischen Föderation ist das jedoch noch kaum aufgefallen. Genauso wenig wie die Politiker hat sie eine Vorstellung davon, wie die Reformen – die alle wollen – aussehen müßten. Ihr Wahlverhalten ist genauso gespalten wie ihre augenblickliche Bewertung der Reformen. Die Menschen leiden unter der Inflation und profitieren von der Vielfalt des Warenangebots. Und selbst wenn sie nur profitieren, werden sie nicht müde zu klagen. Denn das ist es, was sie siebzig Jahre lang gelernt haben. Die Verschlechterungen wurden in Osteuropa intensiver erlebt als die Verbesserungen. Und das, obwohl es von ersteren stets mehr gab.
Die Bürger kritisieren die Politiker und hoffen doch, daß diesen der große Coup gelingt. Den Glauben an das Machbare haben ihnen die Kommunisten gegeben und genommen. Da es keine Programme gibt, hängen sie ihre Hoffnungen an Personen. Viele haben ihre Landeslistenstimmen für die Versprechungen des Ultranationalisten Schirinowski hingegeben, in ihrem Heimatwahlkreis jedoch nicht selten für die Politiker gestimmt, die in der Praxis die Reformen umsetzen.
Viele haben es jedoch vorgezogen, überhaupt nicht zu stimmen. Und auch das ist verständlich. Denn es gibt wohl nur wenige Staaten, deren Leben so sehr von der Politik bestimmt wurde wie das der Russen. In den vergangenen siebzig realsozialistischen wie in den acht Perestroika- und Reformjahren. Acht Jahre voller Diskussionen. Streit über die Pressefreiheit und die stalinistische Vergangenheit, der Augustputsch, der Oktoberputsch, die Auflösung der Sowjetunion, die Preisinflation, der fünfte, sechste, siebte Volksdeputiertenkongreß. Daher das dringende Bedürfnis, sich endlich nicht mehr für Politik interessieren zu müssen. Endlich nicht mehr gezwungen sein, ständig eine Position einzunehmen. Endlich eine Erholungspause von den nicht enden wollenden Reden.
Die russischen Reformen können, so diffus sie auch sein mögen, selbst durch Wladimir Schirinowski nicht mehr aufgehalten werden. Sie werden allenfalls noch ein wenig diffuser werden. Doch in den kommenden zwei Jahren wird sich durch den ökonomischen Umbau die russische Gesellschaft weiter differenzieren, und die differenzierte Gesellschaft wird ein differenziertes Parteiensystem benötigen. Erst dann werden die Politiker nicht mehr für die gesamte russische Bevölkerung reden können. Erst dann kann der Wettstreit der Programme beginnen. Sabine Herre
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