Total verweigert

■ Landgericht bestätigte Urteil der ersten Instanz / Staatsanwalt schoß mit seinem Antrag auf Haftstrafe weit übers Ziel hinaus

Vor vollbesetzten Zuschauerbänken ging gestern der Prozeß gegen einen 25jährigen Totalverweigerer in die vorerst letzte Runde. Das Amtsgericht hatte den Angeklagten Roland K. zu 4.800 Mark Geldstrafe wegen Fahnenflucht verurteilt. Der Staatsanwalt wollte den jungen Mann jedoch zu neun Monaten Knast verdonnert sehen und hatte deshalb Berufung eingelegt. Doch die 15. Strafkammer des Landgerichts unter Vorsitz von Richterin Tschirsky-Dörfer spielte nicht mit: Sie bestätigte das Urteil der ersten Instanz.

Der in Lichtenberg wohnende Fahrradkurier Roland K. ist damit der dritte Totalverweigerer, der in Berlin in zweiter Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Vor Gericht verlas er gestern eine lange Erklärung, in der er seine Beweggründe für die Verweigerung des Wehr- und Zivildienstes darlegte. Der in der DDR aufgewachsene junge Mann war bereits 1987 von der Nationalen Volksarmee gemustert worden, aber erst Ende 1991 von der Bundeswehr in ein Panzergrenadierbataillon einberufen worden. Auf den Bescheid hatte er jedoch nicht reagiert.

In der DDR, so der Angeklagte gestern, sei er ein Mitläufer gewesen, habe getan, was er sollte. Erst die Wende habe es ihm ermöglicht, sein Widerstandspotential „freizulassen“. „Ich will mich nicht an der Planbarkeit und Durchführbarkeit von Kriegen beteiligen“, sagte er. Konflikte mit Waffen zu lösen, lehne er grundsätzlich ab. Gewalt provoziere immer Gegengewalt und: „Soldaten sind potentielle Mörder.“ Auch der Zivildienst sei ein „Zwangsdienst“, weil man im Krieg verletzte Soldaten bergen und „wieder beschußfähig“ machen müsse. Ansonsten würden die Zivildienstleistenden dazu mißbraucht, die schlechten sozialen Zustände zu vertuschen. Sie würden benutzt, um Löcher zu stopfen, Löhne zu drücken und Arbeitsplätze zu vernichten.

Wie das Amtsgericht sprach auch das Landgericht gestern von einer „Gewissensentscheidung“ des Angeklagten. Auch wenn das Gericht seine Schlußfolgerung nicht teile, seien seine Motive durchaus achtenswert. Der Staatsanwalt dagegen hatte erneut neun Monate Haft gefordert, weil sich Roland K. „absolut rechtsfeindlich“ verhalte. Damit nicht genug, bestand er darauf, den Satz des Angeklagten, „alle Soldaten sind potientielle Mörder“, zu protokollieren – vermutlich, um ein neues Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung einzuleiten. Ein Prozeßbeobachter der Totalverweigerer- Zeitschrift ohne uns kommentierte das Verhalten des Anklagevertreters mit den Worten: Im Vergleich zu den Staatsanwälten im Bundesgebiet sei der Berliner „weit übers Ziel hinausgeschossen“. Plutonia Plarre