SED-Beschluß eisgefroren

Der Eishockeyclub Crimmitschau überwinterte trotz heftiger Widerstände 20 Jahre lang. Heute kommen 4.000 Fans zu Regionalliga-Spielen  ■ Von Michael Bolten

Eishockey-Regionalliga Süd, Gruppe A: Der Eishockey- & Tennisclub (ETC) Crimmitschau, derzeit Tabellenführer, empfängt den EV Regensburg, vor diesem Spiel Vierter und zwei Punkte besser gestellt als der ETC. Ein wichtiges Spiel für beide, garantiert doch der vierte Platz den Nichtabstieg aus der Regionalliga. Der westsächsische Club kann auf Fans aus dem gesamten Freistaat zählen. Fast alle, die sich zum Spiel aufgemacht haben, tragen Schals oder Mützen in den rot-weißen Vereinsfarben des ETC. Trotz der eisigen Temperaturen, vor denen das Stadion, nach wie vor noch ohne Dach, keinen Schutz bietet, sind die Ränge gefüllt. Knapp 4.000 ZuschauerInnen unterstützen regelmäßig den ETC bei Heimspielen, die bayerischen Gegner haben in der Regel 350 Fans.

Eishockeybegeistert waren die Crimmitschauer schon immer. Als 1949 zum ersten Mal um die Eishockey-Meisterschaft in der DDR gespielt wurde, kam der Titelträger aus Frankenhausen, einem Ort in Westsachsen, der ein Jahr später dem Stadtgebiet von Crimmitschau eingemeindet wurde. Nach einer erfolgreichen Titelverteidigung der Frankenhausener gingen die bis 1990 folgenden DDR-Titel entweder nach Berlin oder Weißwasser. Zumindest für die letzten 20 Jahre war dies nicht weiter verwunderlich, da seitdem die Meisterschaft nur noch zwischen diesen beiden Dynamo-Vereinen ausgespielt wurde. In Übereinstimmung mit dem SED-Politbüro sollte sich ab 1970 auf Geheiß von Manfred Ewald, dem Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR (DTSB), die Förderung im DDR-Sport auf die medaillen- und damit prestigeträchtigen Sportarten beschränken. Dieser Beschluß bedeutete das Aus für sechs der insgesamt acht Eishockey-Oberligavereine. Das galt auch für den Armeesportklub Vorwärts Crimmitschau, der zwar mit seiner ersten Mannschaft nie zu Meisterehren kam, dessen Nachwuchsmannschaften jedoch noch 1970 sämtliche Titel errangen. Lediglich die beiden Vereine der Staatssicherheit, Dynamo Berlin und Weißwasser, durften auf Intervention von Erich Mielke weiterhin in der Oberliga spielen ud verloren dadurch auch nicht die finanzielle und materielle Unterstützung. Doch die Westsachsen wollten sich nicht so leicht beerdigen lassen. Schließlich blickte man auf eine Eishockeytradition zurück, die bis in die zwanziger Jahre reichte. So entwickelte sich ein durchaus außergewöhnlicher Widerstand gegen die Entscheidung des DTSB. Einer der Hauptverantwortlichen im Kampf für Eishockey in Crimmitschau war Wolfgang Siegert, der von sich behauptet: „Ich habe nie Eishockey gespielt, war aber immer aggressiver Zuschauer.“

Als 1970 „Eishockey fast verbotene Sportart“ wurde, war Siegert technischer Direktor eines Verwaltungsbetriebs in einem Nachbarort und organisierte die Auswärtsfahrten des ASK Vorwärts. Innerhalb weniger Tage wurden annähernd 10.000 Unterschriften für den Erhalt von Eishockey in Crimmitschau gesammelt. Körbeweise erhielt das ZK der SED in Berlin Post aus Sachsen, und die SED-Kreisleitung wurde von vielen Parteimitgliedern vor die Alternative gestellt: entweder Eishockey in Crimmitschau oder Rückgabe des Parteibuchs. Wider Erwarten hatte der ausgeübte Druck der Eishockeyfans Erfolg. Der DTSB gab kurze Zeit später grünes Licht für die Gründung einer Betriebssportgemeinschaft (BSG). Diese BSG bestand aus einer Sektion – Eishockey.

Die beiden Schiedsrichter betreten die Eisfläche, und es ist wie in nahezu jeder Arena: Ein Pfeifkonzert ertönt. Gleichzeitig werden Wunderkerzen entzündet, und zu den leicht verfremdeten Klängen von „Locomotive Breath“ erstürmt Rot-Weiß das Eis. „Heja heja ETC“ hallt es von den Stehplätzen. Da es keine Sitzplätze gibt, von überall. Trainer Rolf Bielas, der seit 1992 in Crimmitschau tätig ist, mit Dynamo Weißwasser sechsmal DDR-Meister war und 238 Länderspiele absolviert hat, hat sein Team für das entscheidende Drittel völlig umgestellt. Verteidiger tauchen auf einmal als Außenstürmer auf, und die Männer aus Regensburg sind nicht in der Lage, sich auf die veränderten Reihen einzustellen. Der ETC spielt im letzten Drittel überlegen. 8:5 heißt es am Ende für sie, und nach der Schlußsirene sind sie wieder punktgleich mit dem geschlagenen EV Regensburg.

Einen Tag nach Gründung der BSG kam es zum Duell zwischen den Betriebssportlern aus Crimmitschau und den Oberligaspielern aus Weißwasser. Die Westsachsen gewannen. Den damaligen Generalsekretär des DDR-Eissportverbands, Jochen Grünwald, schien das Ergebnis so sehr zu ärgern, daß er eine Sperre der BSG verfügte. Crimmitschau sollte künftig nicht mehr gegen die Teams aus Berlin und Weißwasser spielen dürfen. Da es kaum noch Eishockeyclubs in der DDR und erst recht keine angemessenen Gegner mehr gab, bedeutete dies einen weiteren Rückschlag. Die Crimmitschauer protestierten wieder und erhielten im Februar 1971 einen Termin bei Walter Ulbricht. Auch wenn sich dieser durch seinen persönlichen Sportreferenten Specht vertreten ließ, konnte Siegert zu Hause die Aufhebung der Sperre verkünden.

In den darauffolgenden 19 Jahren ist es den Crimmitschauern gelungen, den Eishockeybetrieb aufrechtzuerhalten. Bei den jährlich stattfindenden DDR-Bestenermittlungen, an denen die Dynamos aus Berlin und Weißwasser nicht teilnahmen, spielte und siegte die BSG immer mit allen vier Teams (einer Männer- und drei Nachwuchsmannschaften). Fraglich war immer nur die Höhe des Erfolges: Bis zum Rekordresultat von 64:0 für Crimmitschau war alles drin. Unterstützung in ihrem 20jährigen Überlebenskampf erhielt die BSG aus Sachsen vor allem von Dynamo Berlin. Die Eishockeymannschaft aus der Hauptstadt stellte Trikots, Schläger und sonstige Ausrüstungsgegenstände, die in der DDR Mangelware waren, zur Verfügung. Ansonsten war Improvisieren angesagt. Im Gegenzug wurden rund zehn Spieler von Crimmitschau nach Berlin delegiert, unter anderem auch der DDR-Internationale Stefan Steinbock, der jetzt in der zweiten Liga bei Nürnberg spielt.

Nach dem Mauerfall ging alles sehr schnell. Bereits im Februar 1990 konnten die Crimmitschauer ihr erstes Freundschaftsspiel im überfüllten Stadion im Jahnpark gegen die SV Hof absolvieren. „Wir haben dabei 18.000 Mark eingenommen“, erzählt Wolfgang Siegert immer noch stolz. Die BSG wurde aufgelöst, und man schloß sich an den ETC Crimmitschau an, der dann bereits im Herbst 1990 an den Meisterschaftsspielen der Bayernliga teilnehmen konnte. Zwei Jahre später wurde der Verein aus Sachsen Bayernmeister und stieg in die Regionalliga auf.

Fans stürmen nach der Schlußsirene die Eisfläche. Die Gewinner des Abends drehen eine Ehrenrunde, die sich allerdings eine Viertelstunde hinzieht, da mit jedem Anhänger, der noch an der Bande steht und mit dem man vor dem Spiel vielleicht sogar noch gemeinsam im benachbarten Betrieb gearbeitet hat, einige Worte gewechselt wird. Einer der letzten auf dem Eis ist der 40jährige Deutsch-Kanadier in Diensten des ETC, Marcel Breil. Der Oldie, Mannschaftskapitän und einer der beiden Profis im Team der Amateure, der auf eine 17jährige Profikarriere in Deutschland und Holland zurückblicken kann, läß sich feiern. Wer weiß, wie lange sein Verein noch umjubelt wird.