■ Nöte bei der Einschätzung der neuen Kraft Italiens
: Ambivalente „Ligen“

Taz-Leserin Frau Friedel aus München fragt in einem Brief, wie denn die „ziemlich schwankende Berichterstattung und Einschätzung der norditalienischen Ligen“ zustandekomme: Mal werde deren Chef Umberto Bossi als „Pfuiteufel“ heruntergemacht, sein Chefideologe Gianfranco Miglio „als seelenloser Apparatschik der Sezession“ dargestellt, „der Rassismus und die Ausländerfeindlichkeit als unerträgliches Merkmal der neuen Bewegung“ vorgeführt; dann spüre man in just unserer taz in Artikeln aus gleicher Feder Sympathie für „die Hiebe, die genau diese Ligen und ihre Führer den anderen Parteien und dem gesellschaftlichen System versetzen“.

Liebe Frau Friedel, Sie haben völlig recht. Wir Korrespondenten sind angesichts der realen Lage in Italien hin- und hergerissen. Wer sich angesehen hat, wie die mittlerweile allesamt abgehalfterten ehemaligen Parteichefs im Prozeß um die immensen Schmiergeldzahlungen des Ferruzzi-Konzerns (insgesamt umgerechnet fast eine halbe Milliarde DM) auftraten, dem wurde der rotzige, unerträgliche, unkontrollierte Umberto Bossi geradezu sympathisch. Und wer, schon lange vorher, bei der ersten großen Aufwallung der Norditaliener in Richtung „Ligen“ vor drei Jahren mitbekam, mit welchen Mitteln die Altparteien – auch die oppositionellen Kommunisten, die Neofaschisten und kleinere Gruppen wie die Radikalen und die Grünen – die „Ligen“ abzutun versuchten und ihnen irgendein Etikett anklebten, der mußte sich zunächst einmal auf die Seite der Angegriffenen stellen.

Da waren die Christdemokraten, die neue, ihnen unbequeme Bewegungen wie eh und je nach dem ekklesialen Motto „Passera“, „Wird auch wieder vorbeigehen“, abtaten. Da waren die Sozialisten, die ihren Reichseinigungshelden Garibaldi aus dem vorigen Jahrhundert hervorholten, die Einheit Italiens als sakrosankt deklarierten und die Ligen als simple Verfassungsbrecher oder Gefolgsleute serbischer Landesspalter abtaten. Dann die Kommunisten, die sich angeblich auf die Seite gesellschaftlicher Solidarität stellten und jeden „Ligisten“ als Egoisten abtaten, der um sein klein Häuschen oder seinen Handwerksbetrieb bangte, weil er Millionen Lire Steuern nach Rom sandte, ohne daß von dort auch nur die kleinste Gegenleistung kam. Oder die Grünen, die die „Ligen“ nicht ernstnahmen, weil sie dachten, daß die sich wegen ihres negativen Aspekts – des Rassismus – sowieso diskreditierten, daß aber ihr positiver Aspekt – Betonung regionaler Präferenzen, etwa beim Umweltschutz und der Stadtplanung – als schlechte Kopie grüner Programmatik durchschaut würde.

Doch die Probleme, die die „Ligen“ formuliert haben, existieren! Sie reichen von der Beklemmung angesichts immer unüberschaubarerer politischer Großräume über das immer inhumanere Verhältnis der Administrationen zum Volk bis hin zur Erkenntnis absoluter Unfähigkeit der Regierungen, soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen. An der Realität dieser Probleme ändert gar nichts, daß manche davon nur eingebildet sein mögen – auch abstrakte Angst, etwa vor dem sozialen Abstieg oder vor Drittweltzuwanderern, ist ein gesellschaftlicher Faktor, selbst wenn nur eine Minderheit davon betroffen ist oder die Angstauslöser ganz und gar harmlos sind.

Umberto Bossi verdeckt freilich gerade diese Realität immer wieder mit seiner Krakeelerei, Ideologe Miglio in seiner ruppigen Kopfab-Art, und das „Liga“-Volk trägt auf seinen Versammlungen auch alles nur Denkbare bei, vordergründig als einen Haufen chauvinistischer Egoisten zu erscheinen. Doch andererseits ist auch nur schwer denkbar, daß sich eine Antiparteienbewegung in Italien ohne derart rohe, ungeschliffene Politamateure wie Bossi, gerade im Gespann mit der subtilen, ironischen Intelligenz des schon rein physisch drakulaähnlichen Professors Miglio, gar nicht erst hätte etablieren können. Die oft eklige, doch stets aufrechte Widerborstigkeit Bossis und Miglios war gleichzeitig auch eine gewisse Garantie dafür, daß sich die „Ligen“ nicht so einfach schlucken lassen.

Ein Zeichen für diese Geradlinigkeit ist auch, wie gebrochen Bossi heute dreinschaut, nach dem ersten ernstzunehmenden Rückschlag in der Wählergunst – seine Kandidaten wurden in den Großstädten Oberitaliens beim letzten Wahlgang fast alle geschlagen, wenn auch meist knapp – und der Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn wegen einer undeklarierten Parteispende des Ferruzzi-Konzerns. Weg ist die Selbstsicherheit, weg der geradezu traumwandlerisch richtige „Zeigefinger“, mit dem Bossi bei allen wichtigen Politereignissen dorthin wies, wo man später meist tatsächlich die Wahrheit fand. Und ganz ins Lächerliche geriet er, als er auch noch die Version vom Diebstahl der seinerzeit kurz zuvor von seinem Kassierer angenommenen umgerechnet 200.000 DM zum besten gab. Schon richtig rührend hilflos wirkte Bossi, als er schließlich mit einem Scheck zum Ermittlungsrichter Di Pietro pilgerte, um wiedergutzumachen: Er weiß, daß er selbst über eine derartige Räuberpistole samt anschließender, armseliger Entschuldigungsgeste bei den Altparteien Kübel von Spott ausgegossen hätte. Das Groteske daran ist, daß gerade diese Räuberpistole durchaus der Wahrheit entsprechen kann, doch Bossi ist angeschlagen und glaubt sich daher wohl selbst nichts mehr.

Für Italien ist dies ein Desaster. Fällt Bossi, wird sich auch die „Liga“ längst nicht mehr so eindrucksvoll als unumgängliches Korrektiv präsentieren können. Das bedeutet aber, daß die alten Parteien oder zumindest ihre derzeit in Ermittlungsverfahren oder gar schon Prozesse verwickelten Schmiergeldempfänger mit großer Sicherheit von der derzeit gezeigten Reue umschalten werden auf totales Mauern: Sie haben nie die Staatsanwälte gefürchtet, die so viele Korruptionsfälle aufgedeckt haben, sondern nur den Machtverfall, und der kam aus den Wahlkabinen, nahm ihnen den Bürgerkonsens und übertrug ihn auf andere, nicht oder jedenfalls weniger korrupte Gruppen.

Können die alten Kämpfer mit dem „Beweis“ herumfuchteln, daß bei den „Ligen“ ebenso wie bei ihnen Politik mit Geldnahme identisch ist, verwischt sich der ungeheure Schub, den die italienische Selbstreinigung gleichzeitig aus der Ermittlungsarbeit der Staatsanwälte und dem Aufstieg alternativer Bewegungen erhalten hatte.

Wer sich ein Bild von den „Ligen“ machen will, kann das, liebe Frau Friedel, eben leider nur im Zusammenhang mit dem Verhalten und den Verbrechen der etablierten Politiker und Parteien tun. Das bedingt eine durchgehend gebrochene Haltung zu den „Ligen“ – Abscheu vor der Fäkal- und Analsprache Bossis, den rassistisch-destruktiven Tendenzen Miglios, der xenophoben Selbstdarstellung des „Liga“-Volkes, doch gleichzeitig Anerkennung, daß eine einigermaßen wirkungsvolle Kraft zur Zerstörung des bisherigen versumpften, korrupten, ausbeuterischen und in großen Teilen mafiosen Machtapparates außerhalb der „Ligen“ nicht vorhanden ist. Werner Raith, Rom