Herzmassage für am Tresen Festgefrorene

■ Platten, Platten, Platten für alle Freaks, die ihr Weihnachtsgeld erst nach dem großen Fest verschleudern

THE BATHERS - LAGOON BLUES

(Marina Records)

Diese Platte hat sich den großen Gefühlen verpflichtet. Den gruseligen Atmosphären, dem guten Geschmack und der Verschwörung, die unmittelbar nach dem Ende eines Liedes beginnt. Die Musik hört sich an wie die melancholische letzte Fassung eines Diktums von Malcolm McLaren: „Wir müssen absolut sichergehen, daß keiner von uns je zur Normalität zurücckehrt.“ Scott Walker und John Cale haben sich die Bathers angehört, Bing Crosby, den American Music Club und 8.964 andere. Mit stimmungsvollen Keyboards und oftmals kaum mehr kommt der Sänger xy aus, um sich vokalistisch grandios zu verlieren. xy's Timbre sagt schon viel: Wer sich zu schnell bewegt, dem versperren SIE den Weg. Wer nicht den Stimmen lauscht, die sonst niemand hört, dem springen SIE in den Nacken. Alle Aufnahmebereitschaft richtet sich nach innen. Wer die Bathers hört, in dem wächst der Mut, seltsame Handlungen zu begehen: Männer zu erschießen, nur um sie sterben zu sehen oder durch die Augen eines Mannes zu schauen, der seinem Erschießungskommando gegenübersteht. Um die Platte mit einem schnöden Wort herabzuwürdigen, ließe sich zittrig „zeitlos“ ausrufen, um ihr gerecht zu werden braucht es schmerzhaft viele Male länger. Oder akut notwendige Aktionen: Wir entehren die Feiertage.

Kristof Schreuf

...BUT ALIVE - FÜR UNS NICHT

(Weird System/EFA)

Das Schlagzeug rattert. Die Gitarren akkurat, abgedämpft. So klingt Jung-Humanismus in Hamburg. Das Konzept ist vielversprechend: Der seriöse Untergrund. Eingängige Musik, gegenwärtige „Indie“-Strömungen verarbeitend, doch reflektiert und bedacht. Ist es Hardcore, ist es Metal? Das sind Fragen, die man bei ...But Alive nicht stellen will. Man hat den Eindruck, es würde keine große Rolle spielen. Wer zuhört, wird feststellen: Ganz recht so, hier geht es um etwas anderes. „All die hohen Ideale retten Dich nicht davor, ein Arsch zu sein“, sagt uns ein Lied. Das Motiv der Gruppe? Es geht hier um das, was über die Dekaden hinweg zunehmend als „Menschlichkeit“ seiner Bedeutung beraubt wurde. Hier also eine Rückkehr zum Ausgangspunkt. Sie prangern Mißstände an, die schwer zu leugnen sind, aber stets ohne die pathologische Verbissenheit, in die abzurutschen man als Idealist so oft gefährdet ist. Einen klaren Kopf bewahren.

Wirklichen Innovationscharakter beanspruchen ...But Alive jedoch nicht übermäßig. Diejenigen, die schon alles zu kennen glauben, werden Für uns nicht gewiß nur noch sehr wenig abgewinnen können. Aber auf etwas wirklich neues kam es im Hardcore selten an. Die Unterschiede: Nicht groß, aber fein.Jan-Christoph Wolter

DIVERSE - RETURN TO CHOCOLATE CITY

(Yo Mama)

Die „Soul Of The City“-Reihe, deren zweiter Teil Return To Chocolate City jetzt in den Regalen steht, leistet die Dokumentation musikalischer Umtriebigkeit für die Achse Hamburg-Hannover. Chocolate City heißt das dritte Album von Parliament, der Band des durchgeknallten P-Funkers George Clinton. Auf dem Cover des Samplers fliegt dann auch Clinton's Mothership als Comic in Smarties-Farben zurück zur Erde. In Farbgebung und Science-Fiction-Begeisterung zelebriert das Deckblatt zur Schokoladenstadt die 70er - Funk und Soul dieser Zeit sind die beiden Pole zwischen denen sich die 12 Stücke der Doppel-LP ansiedeln. Die Hannoveraner Formation Spice entert das Mutterschiff mit gediegenem Rare Groove, während His Masters Voice mit „Train of Love“ an ein Instrumental von Jamiroquai erinnern. Den Panzerknacker und Ex-James Brown-Posaunist Fred Wesley luden Soulstaff in die Schokoladenstadt, wo wenig Überraschendes passiert. Aus der Reihe tanzt hingegen das Hannoveraner Ragga-Duo Ganesha und Ragga D, die nach einer Ska-Einleitung immer schneller rollen. Herausragend aber der Lovers-Soul von Cunnie Williams, auch wenn sich der Barde im Gespräch nicht so recht mit seinem lüsternen „Striptease“ anfreunden konnte. Support your local Sampler!

Volker Marquardt

JEFFREY LEE PIERCE - WILDWEED

(What's So Funny About/Indigo)

Die Wiederveröffentlichung einer der besten Rock'n'Roll-Platten der 80er auf CD zeigt den Gun Club-Architekt Pierce vielleicht auf der höchsten Höhe seiner schmachtenden, falsch gesungenen Visionen. „Love And Desperation“, „Sex Killer“ oder „Wildweed“ gehören zu den effektivsten Herz-Massage seit Erfindung des Plektrons. Wer die Schallplatte bereits seit damals hat und so pfleglich damit war, daß sie bis heute nicht kratzt und hustet, dem können eigentlich nur drei Bonus-Tracks geboten werden, die kurze, aber tiefe Einblicke in die frohe Schlacht, die in Pierce tobt, geben. Ein Gedicht, ein plärrendes „Portrait Of The Artist In Hell“ sowie ein kurzer Hörspiel-Klamauk „Chris And Maggie Meet Blind Willy McTell At A James Brown Concert“ sind allerdings keine wirklichen Kaufgründe. Sie sind nur das feile Lächeln dazu. tlb

DIVERSE - BRÜCKE KAUFEN

(Aus Lauter Liebe/Indigo)

Es war mal eine Zeit, da haben alle, die heute Musikredakteure oder Werber oder Immer-Noch-Musiker sind aufgeregt im Sounds geblättert und am Radio-Knöpfli gedreht, um alles über neue englischen Bands mit Namen wie Spizz Energi, Scritti Politti, Swell Maps, Essential Logic oder The Pop Group (um nur einige zu nennen) zu wissen. Und einmal, da gab es von dem damals noch gerade kultigen Rough-Trade-Label einen Sampler, wo viele von diesen und alle Genannten drauf waren, um mal wieder dem Kontinent zu zeigen, wer den Grips in die Musik bringt: Wanna Buy A Bridge? Diese Compilation haben jetzt ein Haufen Duisburger Musikanten gecovert. Jeder von ihnen, sie heißen Seil, Drecken, Kalte Bauern oder Die Kuh und der Spröde (und natürlich Flowerpornoes), treiben im Geist eines radikalen Post Punks aus den alten Stöcken neue Blüten. Alle alten Verästelungen, kranker Elektronik oder genialer Dilettantismus, Schrabbel-Experimental und Intelellen-Punk, kommen zu Wort. Duisburg ist klein, aber seine musikalische Sehnsucht ist groß. Und da man sich in Deutschland natürlich nie zu ernst nehmen will, ist der ganze Sampler ein Spaß, nur für Post-Punk-Romantiker. Aber von denen soll es ja bekanntlich viele, viele geben. Hier ist eure Platte. tlb

DIVERSE - FUNKY DISPOSITION/BLACKENIZED

(Polydor)

Funky Disposition ist der Titel für eine neue Reihe der Soul-Archäologen von Soulciety und Soulution. In fiebrigem Eifer haben sie in den Polydor-Archiven und unter verstaubten Plattenstapeln nach den Raritäten gesucht, die nicht nur selten sondern auch gut sind. Verschollen geglaubte Schätze von Rittern des Soul wie James Brown, Marvin Gaye, Roy Ayers und Bobby Byrd finden sich ebenso wie aus den Ritzen des Vergessens gepulter Goldstaub ohne Eintrag in den Registern des Ruhms. So etwa Dean Francis & The Soulrockers, deren Stück „Funky Disposition“ der Serie ihren Titel lieh. Auch die New Orleanser Mardi-Gras-Karnevalisten The Wild Magnolias, deren explosive Energie ja vorletzten Sommer beim JazzPort wiederentdeckt werden konnte, sind mit zwei eher moderaten Grooves dabei. Zu James Browns „Talkin' Loud And Sayin' Nothin'“, welches einem berühmten Label seinen Namen lieh, gesellen sich noch mehr Autoren aus diesem Kreisel: Hank Ballard, Sweet Charles und The Power Of Attorney, eine fröhliche Knastgemeinschaft. Eine überzeugende Idee, eine gescheite Auswahl und ungebremster Spaß an der Soul-Ethnologie finden sich hier zu einem CD-Dauerläufer zusammen, den man auch als Argument verschenken kann (und sollte). tlb

BREED - VIOLENT SENTIMENTAL

(Clawfist/RecRec/EFA)

Rattern, schunkeln und querfeldein mitsingen, eine Band für den herb-bitteren Geschmack englischer Heiserkeit. Breed sind aus Liverpool und das Melodieserum, welches dort aus dem Flüßchen Mersey verdampft und sich in die Köpfe der jungen Barden setzt, hat bei ihnen zu sinfonischem Trash geführt. Knarzen und Matschen an der Gitarre mündet hier in Liedgut der Marke Buzzcocks trifft New Model Army. So schnurrige kleine arbeitslose Hits wie „The Gospel According To Love“ oder „My Name In Lights“ können aber auch durch dickblütiges Gebluese mit Weltschmerz hinter Plastik gestoppt werden. Aber nicht lange, und Breed lacht wieder mit einem halbseidenen Anklang an The Jazz Butcher oder eine paar Schlucken Neil Young. „Faithless, Broke And Powerless“ ist schließlich das richtige Stück für meine alten Freunde in St. Paulis Rock'n'Roll-Kneipen, die nach vier Litern Bier scheinbar nachdenklich am Tresen festfrieren und von einer solchen Melodie von innen her wieder aufgetaut werden und sich erinnern, daß sie gerne jetzt bei einem Mädchen wären. Ein Trio für eine spontane Weltumseglung des Planeten „Ich brauch dich nicht - ich brauch dich.“ Kommen im Februar auf Tour und können das dann sicherlich noch besser selbst erklären. tlb

DIE BRAUT HAUT INS AUGE - O.T.

(RCA)

„Auf der Seite des Rock'n Roll“ sah sich die Sängerin Bernadette Hengst in einem Interview sinngemäß mal stehen. Auf dem ersten Album ihrer Band Die Braut haut ins Auge meint „Rock'n Roll“ die milde Tragik, wild und gefährlich leben zu wollen, wo doch am Ende nur die Feststellung steht: „Alles, was bleibt ist liberal und dumm.“ „Rock'n Roll“ ist der Stoff, aus dem die Selbstfindungs-Schlager sind: „Eine Moment lang wußte ich nicht, ob ich auf der richtigen Fahrbahn fuhr, oder die anderen, ich wußte nur: Ich lebe in einer verkehrten Welt.“ „Rock'n Roll“ ist auch Romantik. Sie spricht aus der ewig und vier Tag lang von ungezählten Rock-Bands wiederholten, vollkommen autistisch gewordenen Rudiment-Forderung „Lauf los“. Beim Loslaufen treibt Bernadette Hengst eine spät-wavige „Bombe in meinen Kopf“ an. Bevor sie zündet, platzt die Bombe vor Selbstbewußtsein: „Es ist leicht, auf der richtigen Seite zu stehen.“ Die meisten Texte von DBHIA klingen, als wollte jemand möglichst große Schnittmengen von „Rock'n Roll-Schicksalen/Stories/Mythen und eigener Biographie ausrechnen. Die schülerband-beeinflußte Gruppe spielt dabei locker ihre Anleihen bei Rock, NDW oder Country aus. Die größten Versprechungen für die Zukunft enthalten die Stellen, wo Bernadette Hengst mit gehetztem Unterton so etwas wie „Kein Problem“ singt.

Kristof Schreuf