Zur Königssprosse der Gefühle

■ Weihnacht in St. Pauli oder wie man das Fest der Liebe auch ganz anders begehen kann Von Till Briegleb

Edgar hatte genug. Genug von Weihnachten, vom Fernsehprogramm und von seiner Freundin Esther. Er sprang vom Sofa, packte seine Sachen und verließ die Tropfsteinhöhle in einem Hinterhof von St. Pauli, die sie bewohnten, für eine Reise in die weite Welt. Doch er kam nur bis zur Ecke Talstraße/Reeperbahn, da war er bereits verliebt. Eine Indianerin auf einem Moped, die vor der Techno-Disko „Unit“ augenscheinlich darauf wartete, daß die Große Lokomotive kommt, um sie abzuholen, stellte ihm ein Bein. Edgar stolperte mitten in den Trupp Drogendealer, der vor dem durch einen inzwischen ausgebrannten Pornoladen ersetzten Spirituosen-Spätkauf Passanten anzischelte. Freundlich halfen sie ihm auf die Beine und gaben ihm einen Schluck Sherry. Die Frau schüttelte ihren Federschmuck vor Lachen und stellte sich Edgar als Bratschistin der Staatlichen Philharmonie und Nachfahrin des berühmten Südseeforschers Bronislaw Malinowski vor. Sie unterhielten sich über Nonnenopern und die neuesten Postscript-Schriften. Dann froren sie. Im Wettbüro gegenüber kamen sie dann auf Vegetarismus und Schopenhauer, dann küssten sie sich.

Auch Esther gefiel die Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um etwas volkstümliche Freiheit zu genießen. Doch ihre Abneigung gegen das bescheuerte Angemache auf den Verbindungsstraßen zwischen Simon-von-Utrecht-Straße und Reeperbahn ließ sie zum Fahrrad greifen. Mit Heinz Rühmann auf den Lippen und „Let's make it true“ in den Knochen fuhr sie los. Doch auch sie kam nur bis zur Reeperbahn, immerhin auf die andere Seite. Damals gab es noch den Wienerwald an der Ecke Davidstraße. Dort schloß sie ihren Holländer an das Geländer bei den Altglascontainern und holte sich drinnen beim Straßenverkauf ein Bier. Als sie das Händel-Imperium wieder verließ, stand Volker Ippig bei ihrem Gefährt und schiffte in die Lücke zwischen Vorderrad und dem Plastikgrün der Recycling-Mütze. Oder aß er gerade Oliven? Auf jeden Fall kamen sie ins Gespräch, gingen ins Kino und fummelten.

Wäre diese Geschichte von Udo Jürgens, müßte die Indianerin jetzt natürlich die „feste“ Freundin von „Volker, hör die Signale“ sein und später träfen sich dann die beiden Paare wie zufällig in einer Kneipe und würden im Gesicht des vom Schicksal ihnen „eigentlich“ Zugelosten die große und wahre Bedeutung der Treue erkenne. Aber diese Geschichte ist nicht von Udo Jürgens und Liebe ist glaube ich etwas ganz anderes als Spaß.

Also gingen Edgar und die Indianerin ins „Sparr“, das damals, nachdem es eigentlich „out“ war, nun soweit „out“ war, daß es schon wieder „in“ war, so daß man erneut dorthin gehen konnte, wenn man etwas auf seine Kneipen-Credibility hielt. Zwischen Tür und Flipper standen sie nun und knutschten, weil es wegen der Lautstärke, mit der „Led Zeppelin“ durch den Raum flog, leider kaum möglich war, geistvolle Konversation zu pflegen. Dort trafen sie Kristof Schreuf, der seine Batterien bei einem Drohseilakt zwischen sich und einem verantwortungsbewußten Redakteur leerte, aber das ist eine andere, schöne Geschichte. Zumindest scheuten sich Mann und Frau davor, einen Ort von Konsequenz aufzusuchen, und so wurden sie erst merkwürdig eisig, bevor jeder für sich seine zerknitterten Vorstellungen in drei Wodka einweichte. So fanden sie ihre Sehnsüchte schließlich so transparent, daß Wirt Willy was von „Kuschelrock“ murmelte und feixend mit dem Finger auf sie zeigte.

Esther war da flinker. Sie und der St. Pauli-Keeper schlenderten aus der „Oase“ in die „Ritze“, wo sie im Keller ein gemeinsames Interesse fürs Boxen entdeckten. Rene Weller war gerade da und erwies sich als kluger Mensch, der wußte, daß das Sprichwort „Wer mit dem Teufel speisen will, braucht einen langen Löffel“ aus Shakespeares Sturm, II. Akt, 2. Szene, Zeile 100, ist. Muß man das wissen? Als Weller beim Zuschlagen begann, Suren aus dem Koran zu zitieren, gingen die zwei auf die Damentoilette, wo der Chronist sich anstandshalber ausblendet.

Auch der Platz im „Sparr“ war zu der Zeit bereits leer. Ein Weihnachtsgewitter hatte Edgar und die Indianerin nach dem entschlossenen Verlassen der Kneipe in den Wendekreis des Spions vom „Tempelhof“, einer damals noch benützbaren Unterbringung für nächtliche Körperbewegung zu guter Musik, getrieben. Ein freundlicher Berber stand an der Heizung neben dem Eingang und begrüßte jeden Gast persönlich, wenige Tage später, an Sylvester, starb Sigurd Müller an einer Überdosis Heroin. Sie tanzten.

Auch Esther war euphorisiert. So hatte sie sich die weite Welt gedacht, die man in keinem Duden findet. Ein Kribbeln wuchs ihr wie ein eiliger Efeu die Wirbelsäule hoch. Während sie am Thresen der Ritze Biere vernichtete, massierten ihr Bilder ihrer Mutter, die sich so gewünscht hatte, daß Esther Weihnachten nach Hause nach Garmisch kommt, das Gesicht zu einer diabolischen Maske, vor der der Torwart erschrak. Im Fernsehen liefen Orlowski-Pornos, ein Fremder kam immer wieder herein, um auf das Video zu starren, und wurde von den resoluten Bardamen beständig rausgeworfen, weil er keinen Alkohol trinken wollte. Dieser Mann war ein Moslem; die dürfen keinen Alkohol trinken und kennen kein Weihnachten.

Auch ein berühmter malender Snob, damals noch Professor an der Hochschule für bildende Künste, sowie ein singender, chauvinistischer Antifaschist mit Hut, also Leute, die sich Gott denken, wie sie selbst sind, aber auch Buchhaltertypen mit Strichlippen und Wellers Sparringspartner weilten unter den lärmenden Gästen. Esther und Volker erwischten hier gemeinsam den Punkt, wo der Ereignishorizont an Durchmesser schrumpft und Gedanken Unfrieden stiften. Um die Laune zu retten und später ihre Phantasien auszuleben, verließen sie die „Ritze“ und gingen in den „Tempelhof“.

Während Edgar, das Gewissen beinahe vollständig ausradiert, mit der Frau, die natürlich auch einen Namen hat, in den nächsten Stadtteil wankte, kletterten die anderen beim Tanzen zu James Brown zurück auf die Königssprosse der Gefühle.

Hier endet die Geschichte, obwohl noch viel passiert ist, bevor sich Edgar und Esther wieder zu Gesicht bekamen. Viele Geschenke, die man nur im Kopf mit nach Hause nehmen kann, wurden in einer Wohnung in der Sternstraße und in einer Wohnung in der Kastanienalle verteilt. Aber bevor man das in der taz erzählen kann, müssen noch weitere zehn Jahre ideologischer Aufweichung verfließen. So lange bleiben hier noch Wille und Vorstellung an der Macht. Frohe Weihnachten.

PS: Alle Personen und Gegebenheiten dieser Geschichte sind völlig frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.