Leben wie im Kühlschrank

■ Roland Brus macht mit Obdachlosen Theater / Permanent mit materiellen und psychischen Problemen befaßt, begreift er Theaterspielen als einen Prozeß der Menschwerdung

Vor anderthalb Jahren holte der englische Regisseur Jeremy Weller Obdachlose auf die Volksbühne. Nach dem Stück sollten sie zurück auf die Straße. Zusammen mit dem Regieassistenten Roland Brus begannen die Obdachlosen, als „Ratten“ ihr eigenes Theater zu machen. Im Frühjahr 94 stellen sie mit „Alltag einer Malerin“ ihre fünfte Inszenierung vor.

taz: Fühlen Sie sich manchmal selbst als Obdachloser?

Roland Brus: Wenn es nicht gewisse Identifikationen gäbe, würde ich das sicherlich nicht machen.

Welche Parallelen sehen Sie?

Mich interessiert daran die Unbehaustheit. Sie ist ein Anziehungspunkt von verschiedenen Menschen geworden, die sich mit Leuten, die am Rand stehen, identifizieren. Ob das jetzt Arbeitslose sind, ob das Rentner sind, die am Rande des Existenzminimums leben, ob das Leute sind, die für sich keinen Ort finden. Oder auch keinen haben wollen und sich bewußt der Fremdheit aussetzen.

Man stellt sich das ja auch romantisch vor: der Obdachlose als der letzte, der diese Gesellschaft und die Lebensbedingungen in ihr hautnah erfährt. Der auf der Straße schläft, in der Kälte...

Das sind romantizistische Projektionen von Leuten, die selbst im Kühlschrank leben — im gesellschaftlichen Kühlschrank. Da wo nichts mehr passiert, wo der Status quo eingefroren ist.

Ist das Theater für die Obdachlosen ein ästhetisches oder ein therapeutisches Projekt?

Es ist erst mal ein ganz körperlicher Prozeß. Er beginnt mit der Wiederherstellung eines Körpergefühls. Über das Spielen, über das Wieder-sprechen-können, das plötzliche Wiederherstellen eines Selbstbewußtseins, über Anerkennung. Und damit wird natürlich Kreativität freigesetzt. Nicht nur die Toleranz wird größer, auch die Erkenntnismöglichkeit. Ich sehe das als eine Art von... (Brus schweigt kurz) – das ist ein großes Wort – ...eine Art Menschwerdung. Diese Menschwerdung ist nicht zu trennen von dem ästhetischen Prozeß, sondern implizit im Theatermachen, im Kunstmachen mit drinnen.

Haben Sie seit den „Ratten“ auch mit „normalen“ Schauspielern gearbeitet?

Daß die Obdachlosen viel radikaler sind, viel unmittelbarer, weil sie nichts zu verlieren haben, sich keine Gedanken machen darüber, wie sie wirken. Schauspieler fragen immer, was die Figur ist, was die Rolle ist.

Sie sind nicht nur der Regisseur der „Ratten“, sondern Sie müssen sich ganz universell um sie kümmern.

Ja. Es geht darum, sich um die finanzielle Grundlage des Projekte zu kümmern, daß zumindest das Nötigste für Lebensmittel da ist. Es geht darum, die Probleme, die sie haben ... — ihnen erst mal zuzuhören! Und dann kann man im nächsten Schritt sehen, auf der Bühne, wie man das transformiert oder ob man es zum Material nimmt, um eine Figur zu bauen. Bei der Probenarbeit schwemmt permanent Vergangenheit an, und die führt oft zum Ausbruch, zur Verweigerung, zu endgültigen Kündigungen, zum Schreien, Weinen, Kämpfen. Das muß man alles abfangen.

Ist Ihnen das manchmal zuviel?

Manchmal kann ich dann auch nicht mehr. Ich glaube nur, daß das in jedem Theater latent da ist, bei jedem Schauspieler. Bei den Obdachlosen ist es aber offen, das ist der Unterschied.

Wie werden Sie damit fertig, daß von Ihnen erwartet wird, daß Sie einer der Ihren sind, daß Sie aber als Regisseur Distanz brauchen?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Das ist ein Prozeß von Empathie, von Hingabe und von Abgrenzung, die eben auch erforderlich ist.

Zum Beispiel?

Man merkt ja ganz deutlich bei dem Rumstammeln, daß ich die Distanz gar nicht habe...

...daß Sie Angst haben, ihnen weh zu tun...

...nicht nur das, sondern das Problem ist: das Reden über sie — das ist etwas, was sie gar nicht vertragen, die ganze Gesellschaft redet über sie. Das ist das Problem.

Wie geht Ihre Truppe mit dem Voyeurismus um?

Wir versuchen, die Situation aufzubrechen, daß wir wie die Tiere im Zoo sind. Der Besucher denkt, er sei der Voyeur, und plötzlich ist er mittendrin. Das kann schon mit dem Geruch beginnen, mit der Bedrohlichkeit, die davon ausgeht, daß jemand betrunken ist; dem Wissen, daß dieser Abend nicht kalkulierbar ist. Fast jeder denkt doch dabei: Hoffentlich komme ich nie so runter! Spätestens bei uns im Theater merkt man, wie fragil und fiktiv die Bürgerlichkeit ist.

Haben Sie manchmal Angst, obdachlos zu werden?

Obwohl ich im Sommer mal am Rande stand, habe ich das Gefühl, es zu packen. Mein Konto war weit überzogen, ich habe viel getrunken. Und aus meiner Wohnung sollte ich ganz kurzfristig raus. Da waren die Jungs sehr stolz auf mich. Da war ich einer der Ihren. Wir haben's geschafft, sagten sie. Ich wußte, ich kann mich da notfalls noch rausziehen.

Aber es gibt auch die scharfe Abgrenzung. Bei einem Auftritt in Freiburg, der mein letzter sein sollte, eskalierte die Gewalt gegen mich: Einer von den „Ratten“ hat mich umgehauen.

Heute sehe ich das als Abnabelung. In dem Moment, wo man das Gewalttabu verletzt, macht man sich los von jemand. Das ist ganz wichtig für die Selbständigkeit. In dem Moment haben sie angefangen, das Projekt selber zu machen. Interview: Christian Füller