Die Paläontologie des Augenblicks

Mit dem Finger der Natur folgen: Eva-Maria Schöns Ausstellung „Bei den alten Wesen“ im Naturkundemuseum  ■ Von Werner Köhler

Wo Kunst zur zweiten Natur der Natur wird und umgekehrt: Eva- Maria Schön hat das „Museum für Naturkunde“ im Ostteil Berlins mit ihrer Installation „Bei den alten Wesen“ in ein Vexierbild ästhetischer Erfahrung verwandelt. Zugrunde liegt dieser Arbeit vor allem die unverwechselbare Handschrift der in Berlin lebenden Künstlerin. Schön verwendet eine spezielle Tuschemischung, die sie auf Papier aufträgt und mit der Hand oder dem Spachtel in gleichmäßigen Bewegungen verteilt. Ähnlich wie in der informellen Malerei ergibt sich eine flächige Farbspur, die unterschiedliche Dichten aufweist, mal dunkler, mal durchsichtiger erscheint. Der Rhythmus der Hand oder des Spachtels bewirkt in der Figur auf dem Papier eine Art organischer Gliederung, ähnlich den Wachstumssprossen einer Pflanze.

Die Ausstellung in der paläontologischen Abteilung des Naturkundemusums besteht aus vier Glasvitrinen, die Eva-Maria Schön nun jeweils zwischen zwei massiven Gründerzeitvitrinen mit frontal präsentierten Ammoniten und Mollusken plaziert hat. Die zierlichen, aus den zwanziger Jahren stammenden Vitrinen hat sie mit mehreren horizontal gelagerten Glasplatten bestückt und darauf ihre Tuscharbeiten ausgelegt, wobei jeder Vitrine ein anderer Farbton zugeordnet ist.

Fast scheint man metonymischen Bilder zu begegnen: Da das Auge gewohnt ist, abstrakte Formen gegenständlich zu interpretieren, fühlt es sich durch die Zeichnungen mit schwarzer und blauer Tusche sogleich an fotografische Negative oder die technischen Aufzeichungen eines Seismographen oder Spektrometers erinnert, während die Tuschbilder mit grüner Farbe Assoziationen an Pflanzen, diejenigen mit brauner Farbe dagegen eher an Muschelschalen oder Widderhörner wecken. Die Nachbarschaft der Arbeiten zu den ausgestellten Fossilien provoziert einen Vergleich zwischen Natur- und Kunstgeschichte und zwischen dem Schöpfertum in Natur und Kunst, obwohl die Jahrtausende dauernden organischen Wachstumsprozesse geradezu formal analog zur sekundenschnellen Arbeit der Künstlerin erscheinen.

Dabei ist im Ausstellungskontext allerdings zunächst nicht einmal unmittelbar klar, daß es sich bei der Installation von Eva-Maria Schön überhaupt um Kunst handelt. Der unbefangene Museumsbesucher ist irritiert und muß die ihm dargebotenen Ausstellungsstücke als Kunst erst entschlüsseln. Er muß im Grunde wie ein Paläontologe vorgehen, indem er anhand der ihm präsentierten „Gegenstände“ eine Bestimmung versucht.

Solche „Dekonstruktion“ des eigentümlich künstlerischen Produktionsverfahrens wird durch kleine Papierstreifen mit Texten noch verstärkt. Sie sind in den Vitrinen ausgelegt und beschreiben den unmittelbaren Herstellungsmoment der Zeichnungen: „Rhythmus ist Verzögerung“, „Der Abdruck ist fixierte Bewegung“, „Die Hand als Werkzeug“, „Ähnlichkeit und Differenz“ etc. Schließlich ist in einer Vitrine in Augenhöhe eine Glasplatte eingefügt, auf der die Künstlerin quasi unter Umgehung medialer Vermittlung direkt auf das blanke Glas gearbeitet hat. Genaue Beobachtung vermag hier den hauchfeinen Tuscheauftrag zu erkennen und so den Eingriff zu entschlüsseln. Mit einer solchen Verknüpfung von künstlerischer Produktion und mimetischem Prozeß geht auch ein Wandel in der Wahrnehmung einher.

Die Tuschezeichnungen können nicht länger als potentielle Abbildungen eines Gegenstandes interpretiert werden, sondern sie erscheinen vielmehr als Dokumente eines autonomen, abstrakten, künstlerischen Prozesses. Da umgekehrt aber die Formanalogien zu den natürlich abgelagerten Fossilien weiterbestehen, wird es schwer, die Zeichnungen in ihrer Künstlichkeit, ihrem „Gemachtsein“ wahrzunehmen. Die Frage nach ihrem möglichen Ursprung aus einem unbewußten Naturprozeß bleibt bestehen.

In Anlehnung an den künstlerischen Schaffensprozeß kann dieser selbst wider besseren Wissens nur als bewußter Schöpfungsakt gesehen werden. Naturgegenstand und Kunstwerk stellen sich in allen Variationen immer wieder erneut gegenseitig in Frage. Dabei ist es schon begeisternd, die scheinbare Einfachhheit, mit der Eva-Maria Schön ihre Zeichnungen fertigt, analog in der Schöpfung der Natur am Werke zu sehen, und umgekehrt, das schöpferische Vermögen der Natur, transponiert ins künstlerische Schaffen, in den Arbeiten reflektiert wiederzufinden. Eine ästhetische Erfahrung von einer Qualität, die selten zu haben ist.

Bis zum 9. Januar, Di.–So 9.30 bis 17 Uhr, Museum für Naturkunde, Saal 2, Invalidenstraße 43, Mitte.