Mein Einstieg in die Szene

■ Wie ein Pharisäer den Tag unbemerkt in der Staatsbibliothek verleben kann

Da stand ich nun mit 53 Jahren und einem Beutel und 20 Mark im Herbst auf der Straße. Ich hatte einen Personalausweis, aber keine Adresse mehr. Die Krise macht den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben aussichtslos. Notunterkünfte und Kontaktadressen kannte ich noch nicht.

Um tagsüber freie Hand zu haben, gab ich meinen Beutel im Tagesschließfach der Staatsbibliothek auf. Die dafür notwendige Mark gibt es am Abend zurück. Von 9 bis 21 Uhr bietet die Bibliothek einen guten Zwölf-Stunden- Service, die Lektüre aller erdenklichen Tageszeitungen eingeschlossen. Da ich aufgeregt war, wollte ich in der ersten Nacht auf Schlaf verzichten. Der große Kälteeinbruch änderte meinen Plan. Ich beschloß, ein billiges Café mit langer Öffnungszeit zu besuchen. Am U-Bahnhof Weinmeisterstraße liegt das Kulturhaus Mitte. Die Flasche Bier kostet 2,50 Mark. Ich konnte mich an einer Flasche Bier bis 4 Uhr morgens festhalten. Alles war wunderbar, die freundliche Bedienung, die dezente Musik, das Publikum und das Ambiente. Aber auch die schönste Nacht geht vorüber. Ich mußte zu einem kostensparenderen Nachtleben übergehen.

Unter uns Obdachlosen gibt es Pharisäer und Bekenner. Die Bekenner betteln, schlafen, trinken oder schnorren öffentlich. Da ich mich geniere, zähle ich mich zu den Pharisäern. Betrete ich einen der Berliner Fernbahnhöfe, dann studiere ich dort die Fahrpläne oder lese eine Tageszeitung, um die Zeit totzuschlagen. Vor der Kälte flüchte ich auch in den Bahnhof, zum Beispiel sonn- und feiertags, wenn die Staatsbibliothek geschlossen hat.

Auf dem Bahnhof kuschelte sich eine junge Frau an mich und fragte, ob wir nicht gemeinsam etwas unternehmen könnten; sie hätte Hunger. Meine Reaktion war zwiespältig, aber doch abwehrend. Innerlich dachte ich: „Auch das noch!“ Hörbar sagte ich: „Ich kann mir selbst nicht helfen.“ Beschämt verließ ich sofort den Bahnhof und machte einen Spaziergang durch die kalte Winternacht.

Es wäre mir peinlich, würde das noch einmal passieren. Ich erkundigte mich also nach den Adressen für Notübernachtungen. Da sind Männer dickfelliger oder robuster; eine Frau muß mehr Hemmschwellen überwinden.

Ich bevorzuge Nachtcafés. Ich muß mich nicht anmelden, bin meinen Gefährten nicht verpflichtet, zum Beispiel wem welche Schlafstelle gehört, muß keine „Arrangements“ treffen – und ich muß auch nicht erklären, ob ich wiederkomme. Bekomme ich kein Frühstück, gehe ich in eine Wärmestube, die meistens schon früh öffnet. So bleibt mir Zeit, bis die Bibliothek um 9 Uhr öffnet. In der Bibliothek gehe ich sofort in die Sanitärräume, denn dort fließt warmes Wasser.

Morgens fällt mir konzentrierte Arbeit schwer, wenn ich nicht oder schlecht geschlafen habe. Ich bemühe mich um einen Einzelarbeitsplatz und lese Zeitschriften, solange ich müde bin. Manchmal schlafe ich dann noch einmal ein. Dann stemme ich meine Arme unter das Kinn.

So merkt keiner, daß ich schlafe. Manne