Ein modernes Weihnachtsmärchen

s war einmal ein freundlicher und hilfsbereiter alter Mann, der in unserer Stadt in seiner kleinen Werkstatt Rundfunk- und Fernsehgeräte reparierte. Für weniger Betuchte machte Klaus, so hieß der Mann, auch schon mal Sonderpreise oder vergaß sogar, die Reparaturkosten einzufordern. So hätte er in Ruhe und Zufriedenheit leben können, wenn nicht eines Tages – vor etwa zehn Jahren – kurz vor Weihnachten eine böse Fee in Verkleidung eines bei der Justiz angestellten Medizinalrates in das Leben von Klaus getreten wäre.

Besagter Medizinalrat nietete Klaus mit seinem PS-starken Wagen auf dem Zebrastreifen um, als er mit überhöhter Geschwindigkeit einen anderen Wagen überholen wollte. Klaus war unter den Wagen geraten und wurde 190 Meter weit mitgeschleift, da der Fahrer den Aufprall nicht bemerkt haben wollte. Ein Taxifahrer stoppte den Raser und stellte ihn zur Rede, da dieser offensichtlich flüchten wollte und unter Alkohleinfluß stand. Eine klare Sache für Klaus, mochte man denken, der nach drei Monaten als Schwerbehinderter aus der Klinik entlassen wurde und auf Entschädigung und Schmerzensgeld hoffte. Offensichtlich stand der Unfallfahrer, wie das bei Bösen so üblich sein soll, unter dem besonderen Schutz von höheren Mächten, in diesem Fall der Justizverwaltung. Denn außer einem Schmerzensgeld in Höhe von 23.000 Mark, das allerdings seine Haftpflichtversicherung zahlen mußte, kam es weder zu einer Verurteilung noch zu einer Schadensersatzreglung.

Der jahrelange, anscheinend aussichtslose Kampf von Klaus um sein Recht und die durch die schwere Behinderung verursachte Existenzvernichtung verbitterten Klaus und machten ihn zum Sozialfall. Überall im Land und besonders bei den mit dem „Fall“ befaßten Sozialverwaltungen galt Klaus bald als Querulant, weil er auf sein Recht pochte und um Hilfe gegen die Justizbehörden bat. Ja, selbst bei Freunden und Bekannten wurden seine „Horrorgeschichten aus deutschen Beamtenstuben“ immer ungläubiger aufgenommen, weil sie selbst für Obdachlose aus den Wärmestuben mit ihren einschlägigen Sozialamtserfahrungen zu phantastisch schienen.

Ich lernte Klaus kennen, als er mir vor drei Jahren – es war wieder Weihnachtszeit und bitterkalt – eine dieser Geschichten, die ihm immer wieder zustießen, erzählte. Es ging um mehrere von der Feuerwehr im Auftrag der Polizei eingeschlagene Fenster und Türen seiner Wohnung, um ein Vorhängeschloß, welches die Polizei an seiner Wohnung angebracht hatte, und um die Tatsache, daß er mangels Schlüssel zu diesem Vorhängeschloß nicht in seine Wohnung konnte und draußen im Park „Platte machen“ mußte.

Klaus bat mich, eines der zerstörten Fenster auszubauen und zum Glaser zu bringen, damit wenigstens Weihnachten das Wohnzimmer heizbar ist. Ich war durch diese skurrile Geschichte neugierig geworden und begleitete Klaus in seine Wohnung. Dort fand ich zu meiner Überraschung alles so vor, wie Klaus es mir geschildert hatte. Beim Gespräch mit den Nachbarn klärte sich auch überraschend schnell der verworrene Tatbestand auf. Klaus war für eine Woche verreist und hatte den Nachbarn Bescheid gesagt für den Fall, daß nach ihm gefragt wurde. Die Polizei wollte von Klaus nur eine Auskunft in einer Ermittlungssache, und als Klaus auf Klingeln und Klopfen nicht reagierte, wurde der Feuerwehreinsatz angeordnet mit der Begründung, Klaus sei schwerbehindert und könne ja möglicherweise tot oder schwerbehindert in der Wohnung herumliegen.

Als eine Nachbarin, aufgeschreckt durch die eintreffende Feuerwehr, den Sachverhalt richtigstellen wollte, sagten die eintreffenden Feuerwehrleute, sie seien jetzt da, und der Auftrag müsse sicherheitshalber durchgeführt werden.

Als ich Klaus den Tip gab, die reparierten Fenster als „besondere Aufwendung“ vom Sozialamt übernehmen zu lassen, sagte mir Klaus, er habe dies bereits versucht. Das Sozialamt habe aber einen Kostenübernahmeschein mit der Begründung abgelehnt, er solle sich das Geld von der Feuerwehr holen. Die schickte ihn zur Polizei, und es ist wohl überflüssig zu erwähnen, daß Klaus bis heute auf die Erstattung der 130 Mark Glaserkosten wartet.

Im vergangenen Jahr, wieder unmittelbar vor Weihnachten, kam Klaus dann mit einer Geschichte, die noch verworrener und unglaublicher erschien. Das Haus, in dem Klaus wohnte, hatte den Besitzer gewechselt. Das ehemals senatseigene Wohnhaus war an die Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ übereignet worden, und Klaus hatte zum 1. Dezember die Kündigung wegen Instandsetzung und Modernisierungsarbeiten bekommen.

Die Umsetzwohnung, die Klaus angeboten bekommen hatte, war aber nicht rechtzeitig fertig geworden, so daß Klaus mit seinem Umzug in Zeitnot geriet. DIe Umzugskosten, die in solchen Fällen vom Sanierungsträger ersetzt werden müssen, wurden einfach an die Wohnungsbaugesellschaft überwiesen, die ihrerseits den Umzug von Klaus etwas beschleunigte, indem sie die Möbel und sein sonstiges Eigentum aus den Fenstern im zweiten Stock auf den Hof warfen und dann eine Umzugsfuhre zu seiner neuen Wohnung durchführten. Klaus versuchte zu retten, was zu retten war, und transportierte sein restliches Hab und Gut mit dem Handwagen in seine etwa drei Kilometer entfernte Umsetzwohnung. Dabei halfen ihm einige seiner Freunde aus der Wärmestube so gut es ging, so daß Klaus Weihnachten in der neuen Wohnung hätte verbringen können. Wenige Tage nach dem Einzug wurden sowohl Gas als auch Strom abgestellt mit der Begründung, die während der Bauarbeiten aufgelaufenen Energiekosten für die neue Wohnung seien erst zu bezahlen, dann könne er wieder Gas und Strom haben. Klaus, in Panik, Weihnachten ohne Strom und Gas verbringen zu müssen, wußte sich keinen anderen Rat und rief die gute Fee in Gestalt des Radiosenders 100,6 an, wo es eine Sendung gibt „Wir küssen die Behörden wach“. Und siehe da, das Wunder geschah, Reporter recherchierten kurz und zwangen den Sozialstadtrat von Neukölln zur Stellungnahme. Er versprach, energisch in seinem Verantwortungsbereich den schuldigen Sachbearbeitern auf die Finger zu klopfen. Strom und Gas sollten spätestens am ersten Werktag nach den Weihnachtsfeiertagen wieder eingeschaltet werden, weil es inzwischen einen Tag vor dem Heiligen Abend war und auch die Behörden verständlicherweise in seliger Weihnachtsstimmung und damit handlungsfähig waren.

Ein wunderschönes Happy-End für ein Märchen, so möchte man meinen. Frohe Weihnachten für Klaus? – Ja, wenn dieses Weihnachtsmärchen nicht einen bösen Pferdefuß hätte. Das beschriebene spielt im Jahr 1992, und Freund Klaus sitzt ein Jahr später immer noch in einer kalten und dunklen Wohnung, weil die großspurigen Versprechen nicht eingehalten worden sind. Die einzige Änderung für Klaus besteht darin, daß von seinem Sozialhilfesatz seit einem Jahr automatisch 80 Mark für Energiekosten abgezogen werden.

Fröhliche Weihnachten, Herr Stadtrat. Möge ihm der weihnachtliche Gänsebraten im Halse stecken bleiben. Das wünscht ihm Reiner Hikel