■ Die Ärztin Lisa Rasch hat ihre Praxis auf die Straße verlegt: Behandlung open air
: Ein Engel für die Berber

Ein Engel für die Berber

Mittwoch mittag am Hauptbahnhof, fliegende Sprechstunde für Wohnungslose. „Straßenärztin“ Lisa Rasch versorgt sie mit ihrem Helfer Bruder Bernhard und einer Medizinstudentin. „Eigentlich wollte ich als Ärztin in die Dritte Welt“, sagt sie, „hier in Berlin hab' ich sie vor der Haustür.“ Besonders auf Bahnhöfen finden sich jene zusammen, die den Gang zu Ämtern oder ärztlichen Sprechstunden längst aufgegeben haben, amtliche und ärztliche Betreuung aber am dringendsten brauchen. Die Leute mit dem langsamen Gang, mit den schlecht heilenden Sturzverletzungen, den schmutzigen Wunden, den geschwollenen, verkrampften Händen.

Untersucht und verbunden wird ein geschwollenes Knie, ein Finger mit tiefer Schnittwunde wird desinfiziert. Der Mann müßte dringend in die Chirurgie, aber er hat keinen Krankenschein. Freundlich ermuntert ihn Lisa Rasch, eine der Sprechstunden aufzusuchen. Sie fühlt, er kommt wohl nicht.

„Engel der Berber“ wurde Frau Dr. Rasch betitelt. Wohnungslose bedürfen vieler Engel. „Kranken ist Krankenhilfe zu gewähren“ besagt der § 37 Abs. 1 des Sozialhilfegesetzes. Die Natur macht keinen Unterschied, ein Magengeschwür bleibt ein Magengeschwür, ob einer im Bett schläft oder auf der Parkbank. Der Weg zum Arzt ist für viele Berber nicht begehbar. Viele sind kraftlos, aus Scham verlassen sie ihre Nische nicht mehr. Wer sich nicht regelmäßig waschen kann, verliert das Gefühl für den eigenen Körper.

Die Schwellenangst gegenüber Ämtern ist hoch. Angst vor diskriminierender Behandlung, vor langen Wartezeiten und Formalismus der Behörden sitzt tief. Dem Berber ist der Warteraum einer Arztpraxis eine fremde Welt.

Nicht alle niedergelassenen ÄrztInnen und Ambulanzen sind von ihrer Einstellung gegenüber den Wohnungslosen und von ihrer personellen Besetzung her in der Lage, ihren Bedürfnissen und eingeschränkten individuellen Möglichkeiten gerecht zu werden. Dennoch helfen viele.

Seit November 1992 findet Dr. Rasch den Weg zu den Wohnungslosen. Immer mehr von ihnen finden langsam den Weg zurück in ihre Sprechstunde. Dies bleibt aber nur der allererste Schritt zu einer medizinischen Versorgung, die nun mal an einen Krankenschein gebunden bleibt. Nicht selten werden Ausweispapiere gestohlen oder verloren, Menschen aus den neuen Bundesländern melden sich oft aus Unkenntnis nicht an. Ausländer leben in ungesichertem Aufenthaltsstatus.

Innerhalb von zwölf Monaten entstand eine Kartei von mehr als 500 Patienten. Sozialarbeiter müssen deshalb Frau Rasch während ihrer „Sprechstunden“ begleiten. Bisher blieben alle Vorstöße in diese Richtung unerledigt. Streetworker für Wagenburgen, die geräumt werden sollen, ja, aber Sozialarbeiter vor Ort für Berber, nein! Die können gefälligst selbst zum Amt laufen.

Auch mehr Ärzte und Krankenschwestern müßten in den Straßendienst. Amtsärzte, die den Mediziner und Sozialarbeiter in sich vereinigen, können sich vor Ort, in Suppenküchen und Notübernachtungen engagieren. Die Mobilität der Ärzte wäre zu gewährleisten. Studenten könnten Praktika auch auf der Straße leisten. Spenden an Kosmetika helfen, ein Gefühl für den eigenen Körper und damit für die Gesundheit zurückzugewinnen. Aus den Erfahrungen des letzten Jahres wuchs mit Unterstützung des Caritasverbandes und der Ärztekammer ein erweitertes Konzept zur medizinischen Betreuung der Wohnungslosen.

Alle Entscheidungen laufen zäh, die Senatsverwaltungen Gesundheit und Soziales fühlen sich wechselweise nur bedingt kompetent. Frau Dr. Rasch erhielt vor wenigen Tagen unbefristet ihre Halbtagsstelle vom Caritasverband. Nicht einmal diese eine Stelle ist bisher durch den Senat gesichert. Das läßt für die beantragten zusätzlichen Stellen für Ärzte und Sozialarbeiter nichts Gutes erwarten. In diesem Land mißt sich politischer Wille an Finanzierungsverantwortung. Konsequent gedacht, ließe das Finanzierungsverhalten des Senats auf mangelnden politischen Willen schließen, wirklich zu helfen. Ein Staat, der Wohnungslosigkeit nicht verhindert, muß sie wenigstens mildern. Kein Staat darf mit menschlicher Hilflosigkeit spekulieren.

Das Engagement von Lisa Rasch, des Caritasverbandes und der Ärztekammer zeigt auch ermutigende Resultate. Ein renommiertes Automobilunternehmen spendet ein ambulantes Fahrzeug. Bei ausreichender personeller Kapazität könnte das Angebot einer Laborgemeinschaft genutzt werden, kostenlos zu untersuchen.

Die Beschäftigungsgesellschaft „Gesundheit“, in der arbeitslose medizinische Fachkräfte insbesondere aus Ostberlin tätig sind, legte dem Senat ein Projektkonzept vor. Alle erforderlichen Maßnahmen würden zusammengefaßt und könnten über diese Gesellschaft, um deren Arbeitsplätze es letztlich geht, auch flexibel umgesetzt werden. Der Senat selbst arbeitet an einem Konzept zur medizinischen Versorgung der Wohnungslosen.

Es geht um ein Netz von sozialen und karitativen Aktivitäten. Es geht darum, dieses Netz in einer Weise zu knüpfen, die der Lebenssituation der Betroffenen gerecht wird, also hilft, sie zu ertragen, wenn schon ihre Abschaffung politisch zur Unmöglichkeit erklärt wird. In diesem Sinne geht es um Gerechtigkeit. Sonja