■ Wir lassen lesen
: Väterlicher Ratschlag

Buchhändlers liebstes Buch sind Autobiographien. Die gehen weg wie warme Semmeln. Was bei der Lektüre dieser Schmöker – in der Regel paßt ein ganzes, wichtiges Leben eben nicht auf 200 Seiten – zählt, sind Namen, große Namen. Vorzugsweise von Politikern. Aber auch Sportler haben das Genre entdeckt, das noch besser als ein Boulevardblatt die Neugier aufs Private der Großen dieser Welt nährt. Wer könnte seinen Wissensdurst verhehlen, wenn Franz Beckenbauer dem Markt sein „Ich“ offeriert?

Also ist Memoiren lesen ein bißchen wie über Gott und die Welt tratschen. Und viel mehr. Autobiographen übernehmen die Rolle der Herren Pfarrer oder Dorflehrer von dereinst. Leser, die sich an dem Lebenswerk Fremder delektieren, suchen die Bezugspersonen, an denen sich die Fixpunkte des Lebens ausrichten lassen. Eben jene, die diese Welt in Gut und Böse zu teilen vermögen oder zumindest vorgeben, es ebenso gut wie der Briefkastenonkel in den Publikumszeitungen zu tun. Orientierung scheinen Stars, sogenannte, zu verheißen. Damit kalkuliert der Verleger. Und so werden die Ratgeber zwischen den Buchdeckeln immer jünger. Katarina Witt (28) hat ihre „Jahre zwischen Pflicht und Kür“ noch für diesen Monat angekündigt, und selbst Franziska van Almsick soll mit ihren 15 Lenzen schon demnächst ihre Lebensbeichte ablegen.

Ist das Charakteristikum literarischer Autobiographien wie der geistesgeschichtlich bedeutsamen „Bekenntnisse“ von Jean-Jacques Rousseau, daß sie in der Regel nach dem Ableben ihres Verfassers erschienen, so bringen es Sportler fertig, mehrere Leben zu leben, auf Papier. Zu Lebzeiten. Siehe Beckenbauer. Bei Toni Schumacher („Anpfiff“) gar griff das gedruckte Leben, vielmehr die Resonanz auf selbiges, erheblich ins reale Geschehen ein. Die Folge beim Ex-Nationaltorwart ist bekannt – fluchtartiges Ausbrechen aus dem angestammten Lebensraum in die Türkei.

Bei Arthur Ashe ist alles anders. Schon rein formal: Der einzige schwarze Wimbledonsieger starb, bevor sein lesenswerter Lebensrückblick publiziert worden war. „Days of Grace“ (in der deutschen Übersetzung: „Ein Leben gegen das Vorurteil“) sind Memoiren, die sich mit der Welt auseinandersetzen und nicht nur, wie es der deutsche Untertitel („Autobiographie“) vermuten ließe, die Entwicklungsprozesse des eigenen Lebens darstellen.

„Biographien zählen zu meiner Lieblingslektüre“, gesteht Arthur Ashe auf den letzten Buchseiten. Seine eigene beginnt mit einem Todesurteil – Aids. Nein, eigentlich mit Hermann Hesses Stufen-Gedicht, das als Motto dem Buch vorangestellt ist: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde/ Uns neuen Räumen jung entgegensenden,/ Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.../Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Arthur Ashe, der ehemalige Weltranglistenerste, war herzkrank. Bei seiner zweiten Bypass-Operation hatte er, der drei von vier Grand-Slam-Turnieren gewonnen hatte, sich mit HIV-verseuchtem Blut infiziert. Er fühlte sich zum „Outing“ gezwungen, weil ihm sonst die Zeitung USA Today mit einer Enthüllungsgeschichte zuvorgekommen wäre.

Aber Arthur Ashes Lebens- Resümee geriert sich nicht als Abrechnung mit den unschuldig Gesunden. Der Autor – er starb im Februar 1993 an einer Lungenentzündung – hadert nicht. Er erklärt. Und wirkt dabei wie ein gütiger, alter Herr, durch viele Krankheiten zur Weisheit geläutert. Ashe war 49, als er starb. Aber aus seinen Worten spricht der Moralist im besten Sinne: „Daß ich mich auf die Seite der Vernunft und der Versöhnung geschlagen habe, hat eben zur Folge, daß mich manche Leute für konservativ, opportunistisch oder sogar für feige halten. Sollen sie.“

Nach der Bekanntgabe seines Todesurteils beginnt Ashes eigentliche Rückschau. Sie setzt 1979 ein mit dem Abschied von seinem ersten Leben, dem Sport, wobei er sich für seine Teilhabe an „diesem modernen Gegenstück zu den Spielleuten und Gauklern des Mittelalters“ irgendwie zu schämen scheint: „Ich wollte immer ernstgenommen werden.“ Und so kreist sein Leben nach dem Sport – nach einer fünfjährigen Übergangsphase als Kapitän der Daviscup- Mannschaft – um das Bemühen, politischen Protest gegen Diskriminierung jeglicher Art zu artikulieren. Der studierte Betriebswirtschaftler gründete Aids-Stiftungen, ließ sich bei Demonstrationen in Südafrika gegen die Apartheid festnehmen und offenbart sich in all seinem Tun als echter Pazifist: „Ich glaube wie Gandhi oder Martin Luther King jr., daß Gewalt zu nichts weiter führt als zur Zerstörung der individuellen Seele und zum Verderben des Staates.“

Zu den interessantesten Kapiteln gehört die „Last der Rasse“, in dem Ashe die Problematik der Rassentrennung nicht nur autoritären Weißen anlastet, sondern partiell auch den Schwarzen: „Als Gemeinschaft neigten wir eher dazu, etwas mit uns geschehen zu lassen als selber etwas zu unternehmen.“ Er spricht sich gegen das „afro- amerikanische Jugendethos des Anspruchsdenkens, des Das- bist-du-mir-schuldig“, vor allem jener schwarzen Sportler, die sich kraft ihrer Hautfarbe auf Privilegien in einzelnen Disziplinen berufen, aus.

„Ein Leben gegen das Vorurteil“ ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit Sport, Bildung, Politik, Rassentrennung und Sex im Aids-Zeitalter. Arthur Ashe offenbart sich dabei als Wertkonservativer, als Mensch, für den die Familie das stärkste Lebensfundament baut. Man/frau mag nicht alle seine Anschauungen teilen – am wenigstens wohl die tiefe nationale Gesinnung – aber Arthur Ashe ist fern von Dogmatik. In seinem Abschiedsbrief an die fünfjährige Tochter Camera schreibt er: „Unsere Familienältesten haben stets versucht, ihre im Laufe von Generationen gesammelten Weisheiten und Wertvorstellungen an die nächste Generation weiterzugeben.“ Genauso liest sich sein letztes Buch wie ein langer, väterlicher Ratschlag. Cornelia Heim

Arthur Ashe: Ein Leben gegen das Vorurteil. C. Bertelsmann Verlag GmbH, München 1993, 380 Seiten, 39,80 Mark