Zwischen den Rillen
: Alte Leichen, junge Leichen

■ Das Letzte vor Weihnachten: „The Spaghetti Incident?“ von Guns N'Roses

Die CD zum innigsten Flirt des letzten Jahrzehnts: dem zwischen Punkrock und Metal. Die größte lebende Heavy-Metal-Band spielt Punkklassiker. Selbstredend, daß solch ein kommerzieller Geniestreich – dazu noch mitten ins lukrative Weihnachtsgeschäft plaziert – nur von Guns N'Roses kommen kann. Das Näschen immer im Wind – überm schneebedeckten Taschenspiegel.

Coverversionen haben in der Geschichte einer Band vor allem drei Funktionen: Huldigung, Überwindung der eigenen Helden, Abstecken der musikalischen Einflußzonen. Bei „The Spaghetti Incident?“ läuft es auf letzteres hinaus – was angesichts der übermächtigen Guns-N'Roses-Egos auch nicht weiter verwundert. Lassen wir also die Zeit rückwärts laufen.

„Attitude“: Der Song stammt aus dem Jahre 1980 und ist der jüngste auf der Platte. Gesungen wurde er damals von unserem allerallerliebsten Brustkorb auf zwei Beinen. Glenn Danzig heißt er, und spätestens mit ihm hatte sich der Flirt zwischen Punk und Metal ausgewachsen: Was bei den Misfits mit ein wenig Stroh im Haar begann, wurde nicht nur in diesem Fall zum Ganzkörperknutschfleck.

Doch gleichzeitig ist „Attitude“ ein Titel wie ein Abgesang. Eine traurige Anmerkung, eine Fußnote über eine Haltung, die eigentlich keine (mehr) war. Punkrock war schon tot, bloß schwiegen die, die es mitbekommen hatten, sich aus. Der Rest glaubte an eine Leiche, die sich nicht mehr wehren konnte.

Ein paar Jährchen früher treffen wir die Dead Boys, die sich so nannten, weil ihr Sänger Stiv Bators hieß und schon immer so tot aussah, wie er inzwischen ist. Die düsteren Zeilen von „Ain't It Fun“ werden im Munde von Axl Rose zu einer Pose, die man im günstigsten Fall noch ironisch verstehen kann.

Noch früher finden sich natürlich The Stooges – weil die das Fettauge auf jedem kleinen Punkrockhistörchen abgeben dürfen; und natürlich die New York Dolls – weil die die Kacke so früh quirlten, daß es erst gut 20 Jahre später gut Geld dafür gab. Geld, das sich heute zu nicht unwesentlichen Teilen auf den Konten von Axl, Slash, Duff, Dizzy und Ex-Izzy findet. In dieses Kapitel paßt tatsächlich Nazareth – jedenfalls im Blumen-Knarren-Mikrokosmos. Deren „Hair of the Dog“ hört sich von allen zwölf Stücken – ungelogen – am ehesten nach originalen Guns N'Roses an. Klarer Fall von unfreiwilligem Geständnis. Mit dabei noch: The Damned, The UK Subs, T.Rex, aber nichts von den Ramones oder Sex Pistols. Statt dessen ein Stück vom Leichenfledderer Steve Jones, originalerweise aufgenommen zwei Jahre nach dem Tod von Sid Vicious.

Eines muß man Guns N'Roses lassen: Der nicht sehr breite Spagat zwischen geschmäcklerischer Auswahl und kunsthandwerklich-versiertem Umgang mit Instrumenten und Bösewichterelementen ist ihnen gelungen. „The Spaghetti Incident?“ wird so prächtig auf MTV funktionieren, daß einem jetzt schon schlecht werden kann. Weil die Platte nicht mehr als ein fauler Kompromiß ist: Einerseits wollte die Band ihrem als nicht heilbaren Punkrocker verschrienen Bassisten Duff McKagan endlich den Kinderwunsch erfüllen, sich an seinen Helden messen zu dürfen; andererseits konnte man ohne großen Aufwand die Wartezeit auf das kommende Werk verkürzen.

Das aber, was man von so einer Platte erwarten durfte, fehlt (fast) völlig: der soundgewordene Wunsch, sich die eigenen Einflüsse vom Herzen zu spielen, die übermächtigen Vorbilder vielleicht totzuexperimentieren, oder auch einfach mal zu spielen, was Laune macht. Nur einmal, bei „You Can't Put Your Arms Around A Memory“, wo Freund Duff noch eine andere relativ junge Leiche namens Johnny Thunders würdigt, ist etwas davon zu spüren. Vielleicht liegt's daran, daß er im Alleingang singt, Gitarre, Bass und Schlagzeug spielt – der Rest schaut zu.

Noch nicht einmal Guns-N'Roses-immanent gesehen macht die Platte Spaß: Man kann ihren „schmutzigen“, tatsächlich aber kalkulierten und aseptischen Kosmos nicht nach peinlichen Ausrutschern durchsuchen, weil einfach keine drin sind. Da ist man schon froh, wenn die Millionäre es noch schaffen, die Wut, die einmal in diesen Songs steckte, zumindest nachzuempfinden.

Das haut leidlich hin bei „Attitude“ und überzeugend krachend bei „I Don't Care About You“ von Fear. Ansonsten ist „The Spaghetti Incident?“ ein Guns- N'Roses-Album, das seine eigene Kritik dankenswerterweise bereits in den Liner-Notes vorgibt: „A great song can be found anywhere. Do yourself a favor and go find the originals.“ Thomas Winkler

Guns N'Roses: „The Spaghetti Incident?“ (Geffen/BMG).