Jesus – eine Steingeburt?

Vor 2.000 Jahren kam Jesus Christus zur Welt – aber wie? Welche Gebärtechnik wurde angewendet? Was sagen die historischen Quellen? Mit der Geburtsforscherin Liselotte Kuntner sprachen  ■ Renate Reddemann und Richard Laufner

Jesus Christus, zu Bethlehem geboren. Zwischen Ochs und Esel. Das Lukas-Evangelium stellt die Geburt im Stall eines orientalischen Bauernhauses als „natürlichen“ Vorgang dar. Doch die Schweizer Geburtsforscherin Liselotte Kuntner gibt sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Die ausgebildete Physiotherapeutin, selbst 1936 geboren und Mutter dreier Kinder, arbeitete in Kliniken und in eigener Praxis im Bereich der Geburtshilfe. Seit 1978 betrieb sie Feldforschungen, u.a. in Sri Lanka, China, Nicaragua und Nordkamerun zu Geburtshilfe in völkerkundlicher, historischer und medizinischer Sicht. Sie entwickelte einen Gebärhocker, publizierte wissenschaftlich und hielt zahlreiche Vorträge und Workshops an verschiedenen europäischen Universitäten.

taz: Frau Kuntner, gleich in medias res. Wie sieht die Geburtsforscherin Jesu Geburt auf der Grundlage der biblischen Quellen?

Liselotte Kuntner: Zunächst: In den meisten Kulturen wurde damals ganz allgemein in aufrechter Haltung geboren, das heißt in kauernder, stehender oder sitzender Stellung, gestützt von einer Betreuerin oder einem Mann, auf einem Hocker oder auf einem Gebärstuhl. Dies läßt sich belegen durch bildliche Geburtsdarstellungen aus verschiedenen Kulturen vom Neolithikum bis in die Gegenwart und durch geburtshilfliche Literatur von der griechisch-römischen Antike bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im übrigen bedient sich noch heute die große Mehrheit der Weltbevölkerung der aufrechten Haltung, wie die ethnomedizinische Forschung belegt. Erst die männliche Geburtsmedizin der letzten zwei Jahrhunderte drängte die Frau in die passive Rolle und Rückenlage.

Zur Geburt in Palästina vor 2.000 Jahren: Finden sich in der Bibel Textstellen, die eine aufrechte Position belegen? Im Lukas-Evangelium ist der Geburtsvorgang ja nicht genauer ausgeführt.

Es gibt einen hebräischen Text, Moses 2, Kapitel 1, der aus der Zeit 200 vor Christus stammt. Da spricht der ägyptische Pharao zu den hebräischen Hebammen Siphra und Pua: „Wenn ihr auf den Steinen einen Knaben sehet, dann tötet ihn.“ Luther spricht in seiner Übersetzung statt Steinen vom Stuhl.

Also von der Gebärmethode seiner Zeit...

Die Zwingli-Bibel läßt das dann alles weg. Die jüngeren Alttestamentler konnten das nicht mehr interpretieren, weil sie keinen Zugang zu den Gebärmethoden hatten. Ein Alttestamentler hat die „Steine“ sogar mal als die Hoden des Knaben interpretiert. Daß auf Steinen geboren wurde, ist archäologisch bewiesen und zum Beispiel in ägyptischen Hieroglyphen aus der Zeit 2500 bis 1500 v.Chr. zu sehen. Da werden eine jüngere hockende und eine ältere kniende Frau auf diesen Gebärsteinen gezeigt.

War das zur Zeit von Christus denn wirklich noch eine übliche Geburtsmethode?

Ja, das kann man annehmen. Die Legende besagt, daß Maria allein geboren hat, weil die beiden Hebammen Rachel und Salome zu spät kamen. Es gibt eine sehr schöne Christusdarstellung, wo Maria ihr Kind selbst badet. In allen bildlichen Darstellungen spielte die Wärme bei der Geburt eine große Rolle. Es wurden überall Kohlebecken zum Anwärmen der Tücher gebraucht, auch bei der Geburt von Jesus, um den Jungen in warme Tücher zu wickeln. Es mußten also nicht erst Perinatologen und Neonatologen kommen, um die Bedeutung der Wärme zu erkennen. Als ich in Kreta geforscht habe, fand ich auf alten Gemälden von Jesu Geburt Kohlebecken und Nabelbinden.

Hat es denn auch Geburten im Stall gegeben? In der Bibel wird das eher als Notlage dargestellt, da das Paar in der Herberge keinen Platz mehr fand.

Ja, im Stall wurde auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert entbunden. In katholischen Gegenden waren sie besonders zur Weihnachtszeit verbreitet. Wichtig war hierbei sicher die Wärme, zum anderen wohl auch die Symbolik.

Die Hygiene läßt Gynäkologen nachträglich erschauern.

Die Leute waren an die Hauskeime angepaßt. Eine Städterin würde sich sicher auf einem Bauernhof eher eine Infektion zuziehen als eine Frau, die dort aufgewachsen ist. Ich möchte zwar keine Lanze für die Geburt im Stall brechen, beim Zurückdrängen der Hausgeburt wurde allerdings auch das Risiko des Kindbettfiebers in den geburtshilflichen Kliniken deutlich, die epidemische Erkrankung raffte einen hohen Prozentsatz der Wöchnerinnen hinweg.

Hartnäckige Klinikkeime machen uns ja auch heute noch zu schaffen...

Das stimmt. Zurück zu den Hausgeburten: Die Häuser waren früher sanitär schlecht ausgestattet. Geburten galten bei der volkstümlichen Geburtshilfe und bei Naturvölkern meist als etwas Unreines. Vielleicht ging man deshalb in den Stall, damit das Blut und das Fruchtwasser im Stall auslaufen konnte. In einer Darstellung des Wirkens der Laienhebamme Marjosa (1861 bis 1937) im Schweizer Lötschental stellte sich heraus, daß Wochenbettinfektionen dort nicht verbreitet sind. In vielen christlichen Ländern wurde gelegentlich auch dann im Stall geboren, wenn eine geeignete Behausung mit allen für Geburt und Wochenbett nur wünschbaren Einrichtungen zur Verfügung gestanden hätte. Das große Vorbild für fromme Frauen war die Geburt von Bethlehem.

Nochmal zu Maria: Wie hat Maria im Stall ihr Kind bekommen? Auf Steinen?

Steingeburten waren ja sogenannte Schoßgeburten. Für diese braucht es immer eine andere Frau, die auch auf Steinen sitzt und von hinten stützt, so wie ich das in Afrika selbst erlebt habe. Diese Schoßgeburten sind uralt. Der schon erwähnte hebräische Text zeigt, daß sie auch in der Kultur Marias vorhanden war. Thomas Mann hat in seinen „Josephsbüchern“ über die Legenden Jakobs und Josephs, die im 14. Jahrhundert vor Christus spielen, diese Geburten mehrfach dargestellt. „Und sie tauschte ihr Bett mit den Ziegelsteinen“, „sie kam nieder auf Ziegelsteinen mit großer Begabung“ – das ist wunderschön. In diesen Legenden ist auch die Rede von den Heilmitteln, die während der Geburt eingesetzt wurden; Packungen von Tonerde, man trug Amulette, die sogenannten Krikri, die heute noch in Ägypten üblich sind. Das waren kleine, ausgehöhlte Steine, in denen ein kleiner Stein klapperte – auch ein Symbol.

Waren denn zur Zeit Christi die Geburtshaltungen und -methoden immer noch gleich?

Zu dieser Zeit haben diese sich nicht oder kaum verändert. Natürlich kann Maria auch auf Stroh geboren haben, falls sie keine Steine hatte. In einem chinesischen geburtshilflichen Lehrbuch aus dem 13. Jahrhundert ist davon die Rede, daß ein Ballen Stroh zurechtgemacht wurde. Bei den Bauern waren diese Strohsäcke sehr verbreitet – auch zum Schlafen. Das war ja auch bequem und hygienisch.

Ich nehme an, daß an einem Balken des Stalls ein Seil befestigt wurde, an dem Maria sich festhielt, so daß sie stehend oder kniend auf dem Lager entbinden konnte. Joseph war ja auch noch dabei.

Von dieser Geburt könnte man heute, wo die Klinikgeburten im allgemeinen sehr fremdbestimmt sind, einiges lernen.

Unbedingt. Über die Vorteile der aufrechten Gebärhaltung für Bewegungsfreiheit und Verarbeitung von Schmerzsignalen muß man eigentlich gar nicht mehr diskutieren. Das läuft bei uns ja auch erst seit 200 Jahren falsch – schlimm genug.

Die angebliche Empfängnis vom Heiligen Geist und Jungfrauengeburt Marias – hatten diese Legenden Auswirkungen auf den christlich-abendländischen Umgang mit Gebären und Geburt?

Mit dem Auftreten des Christentums verschwanden sowohl weibliche als auch männliche Gottheiten und wurden ersetzt durch einen Schöpfergott. Die Frau als weibliche Schöpferkraft trat nicht mehr in Erscheinung, es gab keine der vorchristlichen Mutter-, Fruchtbarkeits- und Geburtsgöttinnen mehr. Das hatte einen großen Einfluß auf die bildlichen Darstellungen in der christlich-abendländischen Kunst. Die Ereignisse vor und nach der Geburt Christi, die Krippe, Maria als Wöchnerin wurden dargestellt, aber nicht die Geburt selbst. Marias Körperlichkeit, Sexualität und Fruchtbarkeit wurde ausgespart.

Ab dem 14. Jahrhundert finden wir in der christlichen Kultur in Manuskripten, Codices und Hebammenlehrbüchern zwar Geburtsdarstellungen, aber der Austritt des Kindes wird nicht mehr gezeigt. Aus den Bildern ist ersichtlich, welche Gebärformen zu dieser Zeit üblich waren. Insbesondere wird der Gebärstuhl als wichtiges Requisit in der damaligen Geburtshilfe hervorgehoben – in der Darstellung allerdings ohne Frauen. Ab diesem Zeitpunkt wird „blind“ geboren, also unter dem Rock. Wir sehen auch keine Schoßgeburten mehr.

Bei allen Geburten außerhalb der Kliniken wird heute das Risiko beschworen. Gab es denn seinerzeit auch Schutzsysteme?

Schutzsysteme gab es immer. Denn nirgends auf der Welt wurde die Geburt nur als natürlich betrachtet, die pathologische Variante war immer bekannt. Man kannte sie und wollte sie vermeiden. Aber die Schutzsysteme waren immer dem Denken und der jeweiligen Zeit angepaßt. Früher waren Amulette ein Schutzsystem, auch die Magie sowie magische oder reale Heilpflanzen waren solche Schutzmittel. In der industrialisierten Gesellschaft hat sich das im Grunde nicht verändert: Unser modernes Schutzsystem ist heute Monitoring.