Betr.: "Wassind dieser Gesellschaft wirklich die Kinder wert?", taz vom 11.12.93

[...] Wenn „mit selten soviel Konsens“ die ideologische Seite der Erziehungs- und Bildungsdebatte durch das Establishment besetzt wird, dann kommt man nicht umhin, sich auch hier einzuklinken. Ungeachtet der eigenen – theoretischen! – Vorbehalte. Und in der Einsicht, daß dort, wo das Gute immer nur von oben erwartet wird, über Ideologien immer ganz am Anfang, dann über Normen und über Inhalte erst zuletzt gestritten wird.

Die wahre Kunst erweist sich aber erst in der Ergänzung des ideologischen um das institutionelle und das inhaltliche Feld – jeweils mit den richtigen Fragen.

Aber was den institutionellen Aspekt angeht, greifen Reinhard Kahls Angriffe zu kurz. Weder die Erwachsenen „mit ihren komplett verdrahteten Synapsen“ noch die Lehrer, „die sich selber vorm Leben drücken“, können als Sündenböcke für den Verlust sozialer Grundstoffe herhalten. Daraus spricht erstens ein nur mäßig konstruktiver Kulturpessimismus, der zweitens makrosoziale Befunde auf mikrosoziale Defizite zurückführt – und ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Schließlich wurden Erwachsene wie Lehrer von heute auch schrittweise sozialisiert; und dabei hat die Individualisierungswelle nun einmal das Verantwortungsgefühl für größere Zusammenhänge hinfortgespült – was ja auch seine Vorteile hat. Für viele.

Viel spannender ist aber die inhaltliche Seite des Erziehungsgeschehens. Hier zeigt sich nämlich die komplexe Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, hier kommen auch die kreativen Potentiale der vielgescholtenen LehrerInnen und der Erwachsenen-Eltern zum Zug. Ein Beispiel dafür ist die von Reinhard Kahl genannte Helene-Lange- Schule in Wiesbaden. Wo inhaltliche Prioritäten gesetzt und durchgesetzt werden, die dann Normen verändern und vielleicht sogar offenere Weltsichten bei unseren Kindern anbahnen können. Andere Beispiele finden sich in der neuesten Ausgabe der Demokratischen Schule, der Monatszeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern (!).

Im Sinne der Anbahnung einer diskursiven Debatte zum Thema Erziehung (und Bildung) hieße es nun, die vielen Projekte dieser Art zu bündeln, ihre mögliche Innovationskraft anzuerkennen, ihre praktischen Fortschritte theoriegeleitet auszuwerten und sie öffentlich – und kritisch – zu begleiten. Die Zeit des Lamentierens könnte auch auf diesem Feld zu Ende gehen – machte man aus dem Erziehungsmonolog einen Dialog und orientierte man sich an den tatsächlichen Protagonisten des Erziehungsgeschehens, nicht an deren selbstherrlichen Verächtern. Werner Schottenloher,

Regensburg