■ Jelzins Auftritt nach der Wahl läßt den Westen zweifeln: Angst vor Rußland?
Auf Schirinowskis Erfolg konnte der Westen im alten Reflex reagieren: mit Angst vor Rußland. Jelzins erster öffentlicher Auftritt nach den Wahlen wurde, ebenfalls gewohnheitsmäßig, zuerst heiß ersehnt und dann mit Ratlosigkeit quittiert. Während die Angst vor Rußland noch mit dem seit 40 Jahren bewährten Mittel Nato niedergekämpft werden kann, ist die Angst um Rußland sehr viel schwerer auszuhalten. Niemand rettet uns vor ihr, schon gar nicht dieser spröde Jelzin, der sich nach dem 1991er Putsch stoisch verweigert, von Gorbatschow den Titel „Erlöser vom Joch des Kommunismus“ zu erben. Was bringt es schon angesichts des Bösen, das neuerdings den Namen Schirinowski trägt, wenn einer sagt, die Regierung arbeite „weiter wie bisher“, suche den „Dialog mit dem Volk“ und die „Balance in der Wirtschaftspolitik“? Das stillt keine Heilserwartung. Es ist bloß vernünftig in einem Land, dessen Bevölkerung vom Kopf auf die Füße kommen will, ohne genau zu wissen, wo der Erdboden ist.
Für westliche Experten ist es ein Leichtes, mehr Tempo für die Reformen zu fordern; namentlich die Haushaltssanierung, indem die teuren Kreditlinien für die Industriekombinate gestrichen werden. Rußlands Regierung kann aber gerade nach den Wahlen nicht ignorieren, daß es außer dem betrieblichen kein soziales Netz im Land gibt. Sie wird im nächsten Jahr, auch mit Gaidar, schwanken müssen zwischen ihrem erklärten Ziel, den Haushalt zu sanieren, und der Notwendigkeit, der Industrie Zeit (also Geld) für den Umbau ihrer Strukturen zuzugestehen.
Nach der Balance zu suchen, ist darum das einzig mögliche Wirtschaftsprogramm. Die Furcht, daß die Regierung dabei zu sehr den beharrenden Kräften zuneigt, ist nach Jelzins bisherigen Handlungen unbegründet. Nachdem sich die Regierung vor den Wahlen nicht auf einen Staatshaushalt verständigen konnte, erließ der Präsident am Dienstag ein Sparbudget, dem der Einfluß des Internationalen Währungsfonds deutlich anzumerken ist.
Wenn Jelzin ankündigt, seine Mannschaft mache „weiter wie bisher“, lohnt sich ein Rückblick auf die geleisteten Wirtschaftsreformen: Welche Regierung, außer der russischen, hat je freiwillig ihre Rüstungsaufträge in zwei Jahren um 80 Prozent gekürzt? Und welche, außer der russischen, hat es geschafft, den Anteil der absolut Armen an der Bevölkerung in zwei Jahren von 90 auf 30 Prozent zu drücken?
Trotzdem gibt es den Erfolg der Nationalchauvinisten, der auf frustierten Erwartungen beruht. Außer der Inflation und sozialer Unsicherheit trägt zur Enttäuschung vieler Russen auch das Gefühl bei, vom Westen nur wenig unterstützt zu werden. Der Reflex im Westen, erneut aus Angst vor Rußland in Waffen zu erstarren, nützt darum vor allem einem: Schirinowski. Donata Riedel
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